Kolumne
Das Kartellrecht wird in den USA (endlich) wieder durchgesetzt
Die Administration Biden greift Bemühungen wieder auf, so wie Deutschland und die EU den Verdrängungswettbewerb der Großkonzerne einzuhegen. Kein leichtes Unterfangen nach einer jahrelangen Politik des Wegsehens.
Unter der Administration Biden haben die Vereinigten Staaten im Stillen eine neue, rigorosere Politik entwickelt, um die Monopolstellung der Internetriesen und anderer amerikanischer Großkonzerne einzuhegen. Biden hat die Durchsetzung des Kartellrechts und andere Versuche, diese Unternehmen an die Kandare zu nehmen, wieder aufgenommen und damit den größten Kurswechsel im Wettbewerbsrecht seit drei Jahrzehnten vollzogen.
Die bisherigen Ergebnisse sind bescheiden. Aber mit der Stoßrichtung schlagen die USA einen klaren Kurs ein, der sich der Durchsetzungspraxis in Deutschland und in der EU annähert. Das könnte der europäischen Wirtschaft nutzen, indem sich mehr Märkte für europäische Unternehmen öffnen, die derzeit von den global operierenden Riesen aus den USA beherrscht werden.
Vor vierzig Jahren begann die Administration Reagan, die Durchsetzung zurückzufahren. Sie ließ sich dabei von der Denkschule der University of Chicago leiten, die das „Verbraucherwohl“ und „wirtschaftliche Effizienz“ im engeren Sinne über alle Bemühungen stellte, rohe Marktkräfte und wirtschaftliche Vormacht zu zügeln. Herauskamen riesige Konzerne mit Monopolstellung, die wie Gebirge ihre eigenen Wetterbedingungen schaffen, mit denen alle anderen leben müssen.
Da sich sowohl die Demokratische als auch die Republikanische Partei von dieser Philosophie vereinnahmen ließen, hatte jahrzehntelanger Laissez-Faire-Kapitalismus zur Folge, dass nahezu keine Maßnahmen gegen Monopole oder Fusionen durchgesetzt wurden, obwohl Großkonzerne ihre Wettbewerber aufkauften und es in einer Branche nach der anderen zur Marktkonzentration kam. Langfristige Folgen waren der Verlust von Millionen guter Arbeitsplätze, Entgelteinbußen der verbleibenden Beschäftigten, weniger Firmengründungen und unverhältnismäßig hohe Preissteigerungen in bestimmten Branchen– alles das Resultat fehlenden Wettbewerbs.
Biden erwähnt als erster Präsident seit Jimmy Carter in der Rede zur Lage der Nation das Kartellrecht.
Eine neue Generation von Rechtswissenschaftlern und Aufsichtsbehörden wehrt sich jedoch gegen die Chicagoer Schule und argumentiert, dass Internetriesen wie Google, Facebook, Amazon und Apple oder Fusionen in der Luftfahrt und anderen Branchen neue wettbewerbsfeindliche Risiken mit sich bringen, die ein Eingreifen des Staats und innovative rechtliche Lösungen erfordern. Nach Jahrzehnten, in denen sich die Kartellrechts-Maßgabe des Verbraucherwohls und der niedrigen Preise überholt hat, greifen die Monopolgegner die Ideen von Präsident Teddy Roosevelt wieder auf. Dieser legte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Kartellen an, weil er der Meinung war, dass eine Vormachtstellung einzelner Megakonzerne Märkte verzerren und Verkäufern, kleinen Firmen, Arbeitnehmer*innen, Firmenneugründungen und der Demokratie selbst schaden kann. Die Biden-Administration hat diese neue Philosophie als Vision für die Wettbewerbspolitik im Zeitalter des Internets übernommen.
„Kapitalismus ohne Wettbewerb ist kein Kapitalismus. Es ist Ausbeutung“, so Präsident Biden in seiner Rede zur Lage der Nation am 7. Februar 2023. Im Jahr 2021 sagte Biden: „Sie [diese Unternehmen] konkurrieren nicht um die Gunst der Konsument*innen, sondern konsumieren oder verzehren ihre Konkurrenz.“ Dabei nannte er die Landwirtschaft und den Technologie- und Pharmasektor als Beispiele. „Anstatt um Arbeitskräfte zu konkurrieren, finden sie Mittel und Wege, die Oberhand über die Arbeitnehmer*innen zu gewinnen.”
Biden hat den Kongress aufgefordert, Gesetze zu verabschieden, „um die Durchsetzung des Kartellrechts zu stärken und die großen Online-Plattformen davon abzuhalten, ihren Produkten einen unlauteren Vorteil zu verschaffen“. Mit seinem Appel hat Biden als erster Präsident seit Jimmy Carter 1979 in einer Rede zur Lage der Nation vom „Kartellrecht“ gesprochen.
Joe Biden hat bereits einen umfassenden Präsidialerlass zur Förderung des Wettbewerbs in der amerikanischen Wirtschaft beschlossen, der 72 Einzelmaßnahmen beinhaltet. Diese richten sich gegen unternehmerische Machtkonzentration in einem breiten Spektrum von Märkten, von der Landwirtschaft über den Breitbandsektor und verschreibungspflichtige Arzneimittel bis hin zu Fluggesellschaften und der Eisenbahn. Durch seinen Präsidialerlass müssen über ein Dutzend verschiedener Behörden aus allen Regierungsressorts Konzernfusionen genauer unter die Lupe nehmen und dagegen vorgehen, wobei die Themen von der Einschränkung des Wettbewerbsverbots für Arbeitnehmer*innen bis zur Überwachung von Bankenfusionen reichen.
Drei Hauptinstrumente sollen die neue Politik der Biden-Administration vorantreiben:
- Neue Führung in den Regulierungsbehörden. Biden hat hochgelobte Ernennungen für die beiden wichtigsten Regulierungsbehörden vorgenommen: die Handelskommission „Federal Trade Commission“ (FTC) und das Justizministerium (DOJ).
- Klagen und juristische Durchsetzung. Gerichtsverfahren können ein wirksames Instrument zur Durchsetzung der Gesetze sein. Gleichzeitig birgt die Strategie jedoch Risiken, denn diese Unternehmen verfügen über unbegrenzte Mittel und ein Heer von Anwälten. Außerdem ist der Rechtsweg langwierig.
- Präsidialerlasse und Gesetzgebung. Die Biden-Administration hat versucht, per Gesetz das Instrumentarium der Regulierungsbehörden auszubauen, aber sie hatte Probleme mit der Parteiräson in der Demokratischen Fraktion, vor allem im tiefgespalteten Senat. Unter dem Lobbyansturm der Großkonzerne verliert die Demokratische Partei ab und an die Nerven.
Präsident Biden nutzt außerdem die „Plattform“ seines Amts, um sich für strengere Vorschriften, Gesetze und Umsetzungen einzusetzen und die größten Internetkonzerne wie Amazon, Meta, Google, Microsoft und Apple zu kritisieren, die seiner Ansicht nach ihre unternehmerische Großmacht ausnutzen und so den amerikanischen Otto-Normal-Verbraucher*innen schaden.
Neue Führung in den Regulierungsbehörden
Die Regierung hat ein Team starker, durchsetzungsorientierter Führungspersönlichkeiten an die Spitze der wichtigsten Kartellbehörden gesetzt: die Juristin Lina M. Khan als Vorsitzende der Federal Trade Commission (FTC) und den Juristen Jonathan Kanter als Leiter des Kartellreferats im Justizministerium. Daneben hat Biden die Ernennung von Richtern priorisiert, die die neue kartellfeindliche Philosophie befürworten.
Seit ihrer Ernennung zur Vorsitzenden der FTC hat Khan bereits eine Reihe von Schritten unternommen, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht zu unterbinden, wie zum Beispiel:
- Klage gegen Facebook mit dem Ziel, das Unternehmen aufzuspalten, weil es versucht haben soll, mit der Übernahme von Instagram und WhatsApp (die die Administration Obama zuvor genehmigt hatte) seine Monopolstellung zu festigen;
- Aufhebung einer langjährigen Richtungsweisung, die die FTC in ihrem Vorgehen gegen unlauterere Wettbewerbsmethoden einschränkte;
- Anordnung, die von neun Internetkonzernen wie Amazon, Facebook, Google und TikTok verlangt offenzulegen, wie sie die Daten ihrer Nutzer erfassen und verwenden;
- Voruntersuchung der Getränkehersteller Coca-Cola und PepsiCo wegen des Vorwurfs, größeren Einzelhändlern günstigere Preise anzubieten, was gegen das Gesetz verstößt, das Preisunterschiede bei ähnlichen Produkten zwischen großen und kleinen Einzelhändlern verbietet.
Viele der jüngsten Maßnahmen der FTC wurden mit einer sehr knappen parteipolitischen 3:2-Mehrheit (Demokraten versus Republikaner) innerhalb der Kommission beschlossen. Diese oft bescheiden wirkenden Schritte räumen in vielen Fällen mit jahrzehntelangen Richtlinien und Gepflogenheiten auf und ersetzen sie durch aggressivere Ansätze, die die Konzernpraktiken, einschließlich Fusionen und Übernahmen, einer genaueren Kontrolle unterziehen.
Klagen und juristische Durchsetzung
Eine der schärfsten Waffen im Arsenal der FTC und des Justizministeriums sind Klagen und Strafrechtsverfahren, um Gesetze durchzusetzen. Allein die Androhung kann das Verhalten eines Konzerns beeinflussen, sofern sie glaubwürdig ist. Dennoch haben beide Behörden dieses Instrument jahrzehntelang kaum genutzt. Das hat sich drastisch geändert.
Im Januar 2023 reichten das Justizministerium und acht Bundesstaaten Klage ein, um das lukrative Anzeigengeschäft von Google aufzubrechen, was ein gravierender Eingriff wäre, da die Werbeeinahmen bei Google 80 Prozent des Geschäfts ausmachen. Eine weitere Klage von 2020, die den Vorwurf erhebt, dass Google die Online-Suche monopolisiert, kommt dieses Jahr vor Gericht. Daneben verfolgt die FTC einige ambitionierte Gerichtsverfahren, die zum Ziel haben, Instagram und WhatsApp aus der Facebook-Muttergesellschaft Meta herauszulösen. Die FTC versucht außerdem, das Schwergewicht Microsoft mit einer Klage davon abzuhalten, weitere kleine Firmen zu schlucken. Es geht darum, die 69 Milliarden Dollar schwere Akquisition der Spielefirma Activision Blizzard durch Microsoft zu blockieren. Im Dezember 2021 hatte die FTC bereits geklagt, um die Übernahme des Chipherstellers Arm durch Nvidia zu verhindern und argumentiert, dass das durch die vertikale Fusion entstehende Unternehmen zur unlauteren Unterwanderung der Konkurrenz in der Lage wäre.
Zuletzt legte das Justizministerium am 7. März Beschwerde gegen die Fusion von JetBlue und Spirit Airlines ein, die es als gesetzeswidrig bezeichnete. Bidens Verkehrsminister Pete Buttigieg kündigte an, dass sein Ministerium ebenfalls seine Befugnisse nutzen werde, um gegen die Fusion vorzugehen. Seit den 1980er-Jahren hatten die föderalen Regierungen und das Verkehrsministerium keiner Fusion zwischen Fluggesellschaften mehr widersprochen, obwohl das Wirtschaftsblatt The Economist berichtet, dass der Gewinn pro Passagier in den USA dreimal so hoch ist wie in Europa.
Justizministerium und FCT haben eine Klagewelle gestartet, die einige Branchenriesen ins Visier nimmt.
Zusammen haben das Justizministerium unter Leitung von Kanter und die FCT mit Khan an der Spitze eine Reihe von Gerichtsverfahren eingeleitet, die von Technologieunternehmen über Pharmakonzerne bis hin zu Buchverlegern einige Branchenriesen ins Visier nehmen. Andere Maßnahmen sollen die Ladenetze für Elektrofahrzeuge öffnen und Hörgeräte günstiger machen, indem sie verschreibungsfrei erhältlich werden. Khan und Kanter verfolgen bewusst eine neue Strategie langwieriger Gerichtsverfahren, die verschiedenste juristische Maßnahmen umfassen. Die Theorie dahinter ist, dass das aktive Eingreifen der Behörden ein starkes Signal an diese Unternehmen sendet.
Inzwischen fühlen sich auch einige Bundesstaaten sowie private Akteure vom Handeln der Biden-Administration ermutigt und gehen vor Gericht. Im Februar 2023 gab es eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof im privatrechtlichen Verfahren Gonzalez gegen Google, in dem der Kläger argumentiert, dass Unternehmen wie Google für jeden Schaden haften sollten, der durch die algorithmische Vervielfältigung böswilliger Inhalte entsteht. In einigen Bundesstaaten haben die Justizminister wichtige Gerichtsverfahren eingeleitet, zum Beispiel Kalifornien gegen Amazon. Hier wird der Vorwurf untersucht, dass Amazon Verkäufern verbiete, ihre Preise bei anderen Einzelhändlern zu senken, was zu „Preisuntergrenzen“ führt, die die Preise künstlich hochhalten.
Die Bundesstaaten Texas, Colorado und Utah haben ebenfalls anhängige Rechtssachen, bei denen es um mögliche Rechtsverstöße durch Google geht, wie die Diskriminierung externer Suchmaschinenanbieter und den Erhalt des Internetsuchmonopols durch wettbewerbsfeindliche Absprachen und Bestechungsgelder.
Gespalteter Kongress verzögert Gesetzgebung
All diese Maßnahmen stellen den größten Kurswechsel in der US-amerikanischen Kartell- und Verbraucherschutzpolitik seit Jahrzehnten dar. Mithilfe präsidialer Erlasse und regulatorischer Befugnisse hat sich die Biden-Administration kleinere Fische vorgenommen, wie das Verbot versteckter Kosten (sogenannter „junk fees“) und Aufpreise, die Senkung von Kreditkarten-Überziehungsgebühren und exorbitanter Dispokreditzinsen, die Einschränkung hoher Seefrachtgebühren sowie die Gewährleistung von Rückerstattungen für stornierte Flüge. Aber die FTC und das Justizministerium haben es auf die großen Brocken abgesehen, einschließlich der Zerschlagung einiger Unternehmen und Blockierung von Fusionen.
Wenn dieser Ansatz über die Amtszeit von Biden hinaus Erfolg haben soll, muss er gesetzlich verankert werden, damit errungene Siege nicht von künftigen Gerichten oder Präsidialerlassen außer Kraft gesetzt werden können. Und da hakt es bisher bei den Bemühungen. Die Demokraten haben eine sehr knappe Mehrheit im Senat und die feindselige Republikanische Fraktion lehnt jedweden erfolgversprechenden Vorstoß der Demokraten reflexartig ab. So haben Biden und die Demokraten trotz ihrer Anstrengungen nur wenig erfolgreiche Gesetzesvorhaben vorzuweisen.
Es gab eine Reihe von Rückschlägen. Biden hat den Kongress gedrängt, Gesetze zu verabschieden, die die Internetriesen davon abhalten, online die personenbezogenen Daten von Kindern und Teenagern zu erfassen, die auf Kinder abzielende Werbung verbieten und die „strengere Grenzen für die personenbezogenen Daten einführen, die diese Unternehmen von uns allen sammeln“. Der Kongress hat es versäumt, entsprechende Gesetze zu beschließen. Auch das bisher größte Gesetzesvorhaben, das die wettbewerbsfeindlichen Praktiken der größten Internetfirmen eingeschränkt hätte, ist im Kongress gescheitert.
Die Technologiefirmen schlachten die jüngste Welle der Anti-China-Hysterie aus.
Das gescheiterte Kartellrechtspaket ging von beiden Parteien aus und wurde drei Jahre lang erarbeitet. Es hätte die Regeln der Online-Ökonomie neugeschrieben, um Unternehmen wie Google, Apple, Amazon und Facebook davon abzuhalten, mithilfe ihrer Plattformen den Markt zu ihren eigenen Waren und Dienstleistungen zu lenken oder die Kunden konkurrierender Plattformen einzuschränken. Doch nachdem die Lobby der Internetriesen, die beide politischen Parteien mit hohen Geldspenden unterstützen, starke Einwände gegen das Gesetzesvorhaben erhoben hatte, ließ die Spitze der Demokraten Partei nie darüber abstimmen. Einige führende Vertreter*innen der Demokratischen Partei aus einflussreichen Bundesstaaten wie Kalifornien, wo das Silicon Valley liegt, äußern sich gern lautstark über die Gefahren von Big Tech, unterlassen es dann aber, entsprechende Gesetze zu unterstützen.
Darüber hinaus haben die ins Visier genommenen Technologieunternehmen die jüngste Welle chinafeindlicher Hysterie mit der Behauptung für sich genutzt, die Gesetzgebung würde den chinesischen Rivalen nutzen. Jetzt, wo die Republikaner das Repräsentantenhaus der USA kontrollieren, ist es unwahrscheinlich, dass sie neue Kartellgesetze unterstützen werden.
Das (Big-Tech-)Imperium schlägt zurück
Bei dieser Schlacht um Marktmacht und Privilegien, die zunehmende Beachtung findet, halten die Internetriesen nicht die Füße still. Google, Meta, Apple und andere haben ganze Armeen von Anwälten und Lobbyisten beauftragt, um Kartellgesetzgebung und Klagen abzuwehren. Dazu heuern sie sogar Insider der früheren föderalen Regierung an.
Google hat mindestens fünf Juristen eingestellt, die aus dem Justizministerium kommen, darunter ein Topanwalt für föderales Wettbewerbsrecht, der jetzt Justiziar für Konzernstrategie ist. Das Unternehmen nimmt außerdem die Dienste von vier Kanzleien in Anspruch, die knapp zwanzig früher im Justizministerium arbeitende Anwälte in ihren Reihen zählen. Google rüstet sich für die größte Regulierungsschlacht in der Firmengeschichte und umgibt sich mit der alten Regulierungsgarde, die die neue schlagen soll.
Die Gerichte haben bereits einige der Anfechtungsklagen des Justizministeriums abgewiesen, die Fusionen blockieren sollten. Ein Bundesbezirksgericht in Kalifornien hat der FTC eine klare Absage erteilt, indem es die Akquisition des Virtual-Reality-Softwareentwicklers Within durch Meta für rechtskräftig erklärte. Dieses Verfahren galt als Testlauf für die aggressive neue Strategie der FTC gegenüber Großkonzernen, die versuchen, aufstrebende Sektoren durch den Aufkauf von Start-Ups zu beherrschen. Einige Richter, die nach der Lehrmeinung der Chicagoer Schule ausgebildet wurden, halten nichts von der neuen Kartellrechtsphilosophie. Deshalb sind neue Gesetze notwendig, um alte Gesetze zu klären.
In der zweiten Hälfte von Bidens Amtszeit verbuchen seine Regulierungsbehörden häufiger Niederlagen als Erfolge. Nahezu alle kartellrechtlichen Gesetzesvorhaben, die im letzten Jahr im Kongress diskutiert wurden, sind in den parlamentarischen Blockademanövern im Senat zum Erliegen gekommen. Dennoch bleiben Bidens Vollstrecker optimistisch. „Um das Gesetz zu verändern und den Wettbewerb zu schützen, müssen wir schwierige Verfahren vor Gericht bringen”, sagt Holly Vedova, die Leiterin der Wettbewerbsbehörde in der FTC. „Es gibt einige Risiken, aber … das war es wert.“
Auch andere Behörden und Ernennungen der Biden-Administration verfolgen parallel eine arbeitnehmerfreundliche Agenda. Vor kurzem entschied ein Regionalleiter des National Labor Relations Board (NLRB, nationale Stelle für die Überwachung und Durchsetzung der Arbeitsbeziehungen), dass Google den Status eines „gemeinsamen Arbeitgebers“ („joint employer“) hat und als solcher gesetzlich verpflichtet ist, mit seinen freien YouTube-Mitarbeiter*innen zu verhandeln, wenn diese eine Gewerkschaft gründen. Google hatte versucht zu argumentieren, dass man bei Freischaffenden keinen Arbeitgeberstatus habe, aber das NLRB hat die Begründung von Google bisher abgelehnt.
Auswirkungen für Deutschland und die EU
Das moderne Kartellrecht entstand in den USA und jahrzehntelang predigte die einflussreiche Chicagoer Schule ihre Deregulierungsphilosophie, die sich weltweit durchsetzte, auch in Deutschland und in der EU. Solange es an jedweder Führung durch die USA mangelte, bot der (obgleich unzulängliche) Regulierungsansatz Europas dennoch die weltweit einzige Autorität in Sachen Wettbewerb.
Die EU versucht seit Jahren, US-amerikanische Unternehmen durch Durchsetzung ihres Kartellrechts in Schach zu halten, wie zum Beispiel durch die Verhinderung der Fusion von General Electric und Honeywell 2001. Die Europäische Kommission hat wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts Bußgelder von fast 10 Milliarden Dollar gegen Google verhängt sowie 725 Millionen Dollar wegen des Cambridge-Analytica-Skandals und weitere 414 Millionen Dollar wegen anderer Datenschutzverletzungen gegen Meta/Facebook. Davor hatte die Europäische Kommission bereits Apple mit 14 Milliarden Dollar Strafe belegt, weil das Unternehmen nicht ausreichend Gewerbesteuer gezahlt hatte. Derzeit droht sie Apple weitere Strafen in Milliardenhöhe an, weil das Unternehmen konkurrierende Finanzdienstleistungen auf dem iPhone zugunsten des eigenen Angebots ApplePay blockiert. Aber für Unternehmen, die 2022 Bilanzgewinne von 95 Milliarden Dollar (Apple), 23 Milliarden Dollar (Facebook) bzw. 60 Milliarden Dollar (Google) hatten, sind solche „kleinen“ Strafen lediglich Betriebsausgaben.
Eine aktuelle Studie des Wettbewerbsrechts in 125 Ländern fand heraus, dass sich die Inhalte ihrer nationalen Kartellgesetze eher an der EU als den USA orientieren. Und das Gesetz der EU über digitale Märkte mag zwar in Anspruch, Umfang und Wirkung begrenzt sein, es zielt aber intelligent auf systemrelevante Unternehmen ab, die aufgrund ihrer Größe eine Zugangskontrolle ausüben und den Markt manipulieren können.
Das deutsche Bundeskartellamt hat eine Reihe vielbeachteter und kontrovers diskutierter Wettbewerbsuntersuchungen eingeleitet, die die Führung digitaler Plattformunternehmen wie Facebook unter die Lupe nehmen. Die Schlussfolgerung war, dass die bestehenden deutschen Wettbewerbsgesetze es den Regulierungsbehörden und Gerichten nicht ermöglichen, schnell genug zu handeln, um den Missbrauch von Marktmacht in dynamischen digitalen Märkten zu unterbinden. Dies veranlasste Deutschland als eines der ersten großen Länder, Wettbewerbs- und Kartellbestimmungen für Technologieplattformen einzuführen. Der Bundestag beschloss das GWB-Digitalisierungsgesetz (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen), das das deutsche Kartellrecht um eigene Wettbewerbsbestimmungen für digitale „Plattformunternehmen [ergänzt], die für den marktübergreifenden Wettbewerb beherrschende Bedeutung haben“.
Es ist sinnvoll, die transatlantischen Bemühungen zu unterstützen, um faire und wettbewerbsfähige Volkswirtschaften für alle zu gewährleisten.
Der weltweite Ton und das Tempo der Wettbewerbspolitik und -regulierung wurden vor Jahrzehnten in den USA vorgegeben. Daher ist der aktuelle Kurswechsel in Washington DC eine wichtige Weichenstellung, die potenziell für die gesamte Weltwirtschaft systemrelevant sein könnte. Die Biden-Administration sieht ihre Bemühungen als „einmalige Chance“, um eine präsidiale Führungsrolle vom Schlag eines Theodor Roosevelt zu beweisen und der jahrzehntelang konservativen Denkschule beim Kartellrecht eine neue Richtung zu geben.
Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Biden-Administration diese Bemühungen durchhalten oder gar ausbauen kann. Es steht viel auf dem Spiel. Gut funktionierende Volkswirtschaften brauchen weitverbreiteten Wohlstand mit fairen Löhnen und Arbeitsbedingungen, Innovation, Auswahl für die Verbraucher*innen, Firmenneugründungen, faire Preismechanismen und nicht zuletzt eine repräsentative Demokratie, die die Wirtschaft regiert – nicht umgekehrt.
Deutschland, die EU und die USA stehen alle vor den gleichen Herausforderungen. Deshalb ist es sinnvoll, die transatlantischen Bemühungen zu unterstützen, um so faire und wettbewerbsfähige Volkswirtschaften für alle zu gewährleisten.
Englische Fassung der Kolumne
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