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Kolumne

Amazon-Beschäftigte wehren sich

Während der Weihnachtsfeiertage hatten die Beschäftigten von Amazon in den USA, Deutschland und anderen EU-Ländern eine besondere Bescherung für ihren CEO Jeff Bezos – eine zunehmend stärkere Arbeitnehmerbewegung.

Die Weihnachtsfeiertage sind in den Vereinigten Staaten für viele eine Zeit der Freude und Feste – ein Anlass, um Werte wie Mitmenschlichkeit und Mildtätigkeit hochzuhalten. Aber für die Arbeitnehmer/innen in den Versandlagern von Amazon, die als „Fulfillment Centers“ (wörtlich: „Ausführungs- oder Erfüllungszentren“) bekannt sind – ein Begriff, der George Orwell alle Ehre gemacht hätte – ist es eine Zeit der Ausbeutung und Gefahr.

In dem Maße, wie Kauflust und Konsum steigen und durch unwiderstehliche Feiertagsrabatte und die Bequemlichkeit des Online-Handels weiter beflügelt werden, steigt auch die Arbeitsbelastung für die fleißigen Hände bei Amazon. Im Weihnachtsgeschäft 2019 bearbeiteten die Beschäftigten in den Lagern von Amazon Millionen von Sendungen, während die Fließbänder in unmenschlichem Tempo mit Bestellungen beschickt wurden.

Aber auch außerhalb der Feiertage arbeiten die Beschäftigten im Akkord, denn sie müssen alle 11 Sekunden einen neuen Artikel scannen, um ihre Quote zu erfüllen. Das sind mehr als 300 Artikel pro Stunde und tausende einzelner Produkte am Tag.

Gleichzeitig überwacht Amazon die Leistung der Beschäftigten permanent mit KI-gestützter Technologie. Vorgesetzte und Computer erfassen die Leistung mithilfe von High-Tech-Überwachungssystemen. Dieser „Effekt des digitalen Plantagenaufsehers“ wird noch dadurch verstärkt, dass an vielen US-amerikanischen Standorten ein Großteil der Beschäftigten schwarz oder lateinamerikanischer Abstammung ist, während die meisten Führungskräfte weiß sind.

„Warnung: Für Amazon zu arbeiten schadet ihrer Gesundheit“

Eine Untersuchung des Center for Investigative Reporting fand heraus, dass die zwanghafte Steigerung der Arbeitsgeschwindigkeit bei Amazon, insbesondere im Feiertagsgeschäft, aus seinen Lagern gefährliche Ausbeutungsbetriebe macht. Der Bericht deckte auf, dass 23 der 110 Logistikzentren in den USA interne „Verletzungsrekorde“ erreichen. Im Jahr 2018 war die Quote schwerer Verletzungen bei Amazon mehr als doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt in der Lagerbranche: 9,6 schwere Verletzungen pro 100 Vollzeitbeschäftigten im Vergleich zum Branchenschnitt von 4. In einem südkalifornischen Lager war die Verletzungsquote mehr als viermal so hoch wie der Branchenschnitt, in einem anderen in Oregon sogar sechsmal so hoch.

Amazon schafft es unter die 'TOP 12' der gefährlichsten Arbeitgeber der USA

Befragte Arbeitnehmer/innen berichten aufgebracht, dass sie sich bei der Arbeit verletzten, aber trotzdem wieder zur Arbeit geschickt wurden, was weitere Verletzungen zur Folge hatte. Im Oktober 2019 erlitt ein Arbeitnehmer an einem Standort in Etna, Ohio, einen Herzstillstand und man ließ ihn 20 Minuten auf dem Boden eines Lagers liegen, bevor ihm jemand zu Hilfe kam. Der Mann verstarb. Der Nationale Arbeitsschutzrat (National Council for Occupational Safety and Health) hat Amazon auf seine Liste der „dutzend gefährlichsten Arbeitgeber der USA“ (Dirty Dozen) für 2019 gesetzt. Nach seinen Angaben starben zwischen November 2018 und April 2019 bei Amazon sechs Beschäftigte am Arbeitsplatz. Allein im Lager von Etna wurde die Notrufnummer 911 zwischen Januar und März 2019 28-mal angerufen. In einem anderen Logistikzentrum in Indiana wurde ein unzureichend ausgebildeter Wartungstechniker von einem Gabelstapler zu Tode gequetscht.

Das unbarmherzige Arbeitstempo und die Arbeitsplatzüberwachung sind bei Amazon zu normalen Zeiten schon schlimm genug. Aber in den Spitzenzeiten vor den Feiertagen werden unvorstellbare Ausmaße erreicht. Ich bin davon persönlich berührt, weil meine Nichte in einem Amazon-Logistikzentrum in Ohio arbeitet. Sie ist eine hart arbeitende Frau. Außerdem ist sie gehörlos. Ihr ebenfalls gehörloser Lebensgefährte arbeitet im gleichen Lager. Am Höhepunkt des Vorweihnachtsgeschäfts erhielt ich eine verzweifelte E-Mail meiner Nichte, in der sie schrieb: „Das hier ist ist ein verletzungsträchtiger Arbeitsplatz! Ich musste zu Spitzenzeiten im Vorweihnachtsgeschäft 60 Stunden pro Woche arbeiten. Es ist sehr anstrengend!”

Meine Nichte, ihr Lebensgefährte und ihre Kolleg/innen wurden zu 12-Stunden-Schichten verpflichtet und in den Lagern wurden unzählige Saisonarbeitskräfte eingesetzt, die keine Vorstellung von der Beschleunigung des Arbeitstempos haben.

Unter den Beschäftigten von Amazon regt sich Gegenwehr

Als Reaktion auf diese gefährlichen Bedingungen beginnen die Beschäftigten von Amazon in den USA, Deutschland, Frankreich und anderen Ländern, sich zusammenzutun und sich zu organisieren. Einige Mitarbeiter/innen von Amazon hatten eine besondere Bescherung für ihren fanatisch gewerkschaftsfeindlichen Vorstandsvorsitzenden Jeff Bezos.

In einem Lager in der kalifornischen Hauptstadt Sacramento begingen die Beschäftigten der Nachtschicht das Weihnachtsfest auf ihre eigene Weise: Sie legten die Arbeit nieder. In der Nacht vom 23. Dezember verlasen sie zunächst laut ihre Forderung nach einer Sitzung mit dem Management und übergaben diesem während ihrer Pause um 2:30 Uhr nachts eine Petition mit 4.015 Unterschriften. Anschließend stempelten 36 der 100 Mitarbeiter/innen um 2:45 Uhr morgens aus und legten mitten in der Schicht ihre Arbeit nieder.

Viele hatten Angst, aber es war ermutigend zu sehen, wie viele letztlich mitgemacht haben“, sagte einer der Beschäftigten, der die Arbeit niederlegte. „Das war das beste Ergebnis der Aktion, die uns und anderen Kolleg/innen gezeigt hat, dass wir es alle können.“

Die Gruppe von Beschäftigten, die sich selbst „Amazonians United Sacramento“ nennt, macht ihre Rechte auf unterschiedliche Weise geltend. Sie hat Veränderungen bei den eklatantesten Folgen der strengen Urlaubsregelungen von Amazon gefordert, die den Beschäftigten nur 20 Stunden unbezahlten Urlaubs pro Quartal zugestehen. Einer Mitarbeiterin wurde gekündigt, weil sie das ihr zugestandene Limit unbezahlten Urlaubs um eine Stunde überschritten hatte, als ihre Schwiegermutter im Krankenhaus im Sterben lag. Es gelang der Gruppe in Sacramento, Druck auf das Unternehmen auszuüben, diese Kündigung zurückzunehmen.

Ein weiteres Problem ist die fehlende Krankenversicherung. Alle Beschäftigten im Lager dieses Versandzentrums in Sacramento arbeiten in Teilzeit und ihre Wochenarbeitszeit ist auf 30 Stunden gedeckelt, damit Amazon den Arbeitgeberanteil an ihrer Krankenversicherung nicht entrichten muss. Etwa 100 Beschäftigte am Standort haben damit angefangen, Buttons mit der Aufschrift „Amazonians United” zu tragen, und erhöhen so ihre Präsenz im Betrieb.

Auch die Beschäftigten eines anderen riesigen Logistikzentrums in Staten Island außerhalb von New York City hatten ein schönes Geschenk für Amazon. Zu Beginn des Erntedankfests legten Arbeitnehmer/innen dem Management ihre Forderungen in einer Petition vor, die mehr als 600 Beschäftigte unterzeichnet hatten. Ein neuer Bericht zeigt, dass diese Beschäftigten ein höheres Risiko schwerer Verletzungen haben als Kohlebergleute oder Holzfäller – die Verletzungsquote ist gut dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Daher lautete eine ihrer Forderungen, die Dauer der Ruhepausen von 15 auf 30 Minuten zu verlängern. Und da einige Beschäftigte Pendelwege von zwei bis drei Stunden haben, verlangten sie außerdem, dass Amazon kostenlose ÖPNV-Fahrkarten für alle Beschäftigten stellt, um die Fahrtkosten zu decken.

Beschäftigte organisieren Foren unter dem Slogan 'Wir sind Menschen, keine Roboter'

In Shakopee, einem Vorort von Minneapolis (Minnesota), organisieren sich die Lagerbeschäftigten von Amazon in der lokalen ostafrikanischen Community um das Thema der unmenschlichen Produktivitätszahlen herum, die zu hohen Unfallquoten beitragen. Dieses Logistikzentrum verzeichnet einige der konfrontationsträchtigsten und bisher erfolgreichsten Aktionen zur Organisation der Beschäftigten. Hier legten die Beschäftigten 2019 zweimal die Arbeit nieder, um gegen die immer höheren Produktivitätsziele des Managements und die Diskriminierung muslimischer Arbeitnehmer/innen zu protestieren. Die Beschäftigten hielten Foren unter dem Slogan „Wir sind Menschen, keine Roboter“ ab. Sie drängten Amazon, den Sicherheitsausschuss des Lagers um zusätzliche Arbeitnehmervertreter zu erweitern. Als Amazon ihrer Forderung nicht nachkam, den Ausschuss von den Beschäftigten wählen zu lassen, beschlossen die Initiatoren, eigene Wahlen abzuhalten.

Dem Beispiel aus Minnesota folgend, starteten die Beschäftigten eines Versandzentrums in Chicago ihre eigene Aktion. Sie befragten Kolleg/innen und verständigten sich schließlich auf drei Kernforderungen: Krankenversicherung, ein Stundenlohn von 18 Dollar zu Spitzenzeiten (aktuell 15 Dollar) und Einbau einer Klimaanlage (in ihrem Lager kann es sehr heiß werden, da die Wände und das Dach aus Metall sind). Dreißig Beschäftigte der Nachschicht drängten sich während ihrer Pause um 2:30 Uhr in das Büro des Schichtleiters, um ihre Forderungen zu übergeben. Durch Petitionen und Demonstrationen konnten sie schließlich einige ihrer Forderungen durchsetzen.

An einigen der umsatzstärksten Tage von Amazon – den „Prime Days“ – kam es am 15./16. Juli 2019 bei Amazon an vielen US-amerikanischen Standorten zu Arbeitsniederlegungen und Protesten. Die Proteste waren teilweise koordiniert und zielten auf die Stoßzeiten ab, in denen die Lager von Amazon auf Hochtouren arbeiten. Beschäftigte und Unterstützer aus der lokalen Bevölkerung marschierten und demonstrierten vor zwei Lagern in Portland, Oregon, und es kam zu Protesten vor einem Amazon-Lager im kalifornischen San Bernardino. Auch die Beschäftigten eines Versandzentrums in Eagan, Minnesota, legten im August die Arbeit nieder.

Athena erhebt sich: In den USA entsteht ein Arbeitnehmer- und Bürgerbündnis

Angesichts der zunehmenden Protestaktionen der Arbeitnehmer/innen im ganzen Land hat sich ein neues landesweites Bündnis gebildet, das versucht, sich an die Spitze weiterer Aktionen zu setzen und den Widerstand gegen Amazon zu einen. Dieses Bündnis mit dem Namen Athena setzt sich aus drei Dutzend Basisgruppen zusammen und befasst sich nicht nur mit den Arbeitsbedingungen in den Lagern, sondern auch mit anderen Übergriffen von Amazon, wie den Überwachungsmaßnahmen und kartellrechtlichen Verstößen. Das Bündnis hat 15 Millionen Dollar gesammelt, wobei ein Großteil des Startkapitals von George Soros’ Open Society kommt.

Arbeitnehmer- und Zuwandererorganisationen, die an vorderster Front gegen Amazon kämpfen, konnten in jüngster Zeit mehrere Siege verbuchen. So gelang es ihnen unter anderem, Amazon dazu zu bringen, einen landesweiten Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde zu zahlen und von seinen Plänen abzulassen, in New York eine neue Konzernzentrale aufzubauen, nachdem Gegner dagegen mobil gemacht hatten. Bei Wahlen in Seattle im Bundesstaat Washington (am Hauptsitz des Unternehmens) vereitelte letzten November eine Koalition Amazons Pläne, mit hohen Wahlkampfausgaben den Stadtrat mehrheitlich mit gewählten Vertretern zu besetzen, die dem Unternehmen akzeptabler erschienen.

Für jeden Dollar Lohn brauchen die Beschäftigten von Amazon 24 Cent Stütze, um über die Runden zu kommen.

Viele dieser Gruppen, die bislang jede für sich gekämpft hatten, schließen sich unter dem Banner von Athena zusammen. Sie wollen sich im Bündnis gegen eine ganze Reihe von Problemen wehren, die bei Amazon auftreten. Dazu gehört auch die in einem Bericht der Forschungsgruppe Economic Roundtable aufgedeckte Situation, dass etwas mehr als die Hälfte der Lagerbeschäftigten von Amazon in minderwertigem Wohnraum lebt. Jeder Dollar ihres Lohns muss mit 24 Cent öffentlicher Unterstützung aufgestockt werden, damit sie über die Runden kommen. Das Gleiche gilt für die Beschäftigten der Fast-Food-Kette McDonald’s oder Mindestlohnempfänger/innen bei Walmart.

Auseinandersetzungen mit Amazon in Deutschland und in der EU

Die Beschäftigten in den USA sind nicht die einzigen, die sich gegen Amazon zur Wehr setzen. Am Black Friday 2019 protestierten die Beschäftigten eines Vertriebszentrums in Berlin mit Arbeitsniederlegung gegen die Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung bei Amazon. Es gab weitere Arbeitsniederlegungen, an denen sich 2.300 Beschäftige in sieben Vertriebszentren im ganzen Land beteiligten. Einige dauerten mehrere Tage. Deutschland ist der zweitgrößte Markt für Amazon nach den USA und die große Dienstleistungsgewerkschaft ver.di versucht seit einiger Zeit, die Beschäftigten von Amazon zu organisieren.

Auch in Frankreich gab es Weihnachten für den Amazon-CEO Jeff Bezos eine besondere Bescherung. In der Nacht vom 22. Dezember bekam die Nachtschicht am Standort Blanc-Mesnil in der Nähe von Paris durch einen rätselhaften, vorweihnachtlichen Stromausfall überraschend frei. Der lokale Arm der Gewerkschaft CGT bekannte sich zu der Aktion. „Das soll die Arbeitnehmer/innen unterstützen, die letzte Woche die Arbeit niedergelegt haben, um auf ihre Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, und außerdem unseren Widerstand gegen die Rentenreform unterstreichen“, erklärte Marc Fréville, der Vorsitzende des lokalen Bezirks der CGT.

Am Black Friday stellten auch in Italien die Beschäftigten von zwei Amazon-Lieferdiensten die Arbeit ein und in Frankreich wurden mehrere Versandzentren blockiert. Beschäftigte im Vereinigten Königreich protestierten unter der Überschrift „Wir sind keine Roboter“ in einem Dutzend Versandzentren. An anderen Amazon-Standorten in der EU wurde gestreikt, mit wiederholten Arbeitskampfmaßnahmen in Polen, Spanien und Deutschland.

Die deutsche Politik lässt Amazon diese gefährliche Ausbeutung durchgehen

Der Kampf wird hart und schwierig werden. Wir sprechen über ein Unternehmen mit einem Wert von knapp 1 Billion Dollar, das weltweit Hunderttausende von Beschäftigten hat, die 2019 etwa 3,5 Milliarden Sendungen bearbeiteten. Tatsächlich fanden die ersten Streiks bei Amazon in Deutschland bereits im Mai 2013 in den Versandzentren in Bad Hersfeld und Leipzig statt. Mit Unterstützung von ver.di forderten die Beschäftigten, dass Amazon den Branchentarifvertrag für den Einzel- und Versandhandel unterzeichnet, der für Unternehmen in dieser Region gilt. Jeff Bezos weigert sich bis heute, den Tarifvertrag zu unterzeichnen oder ver.di als Verhandlungspartner anzuerkennen. Schlimmer ist jedoch, dass die deutschen politischen Instanzen Amazon mit solch gefährlichen Formen der Ausbeutung davonkommen lassen.

Die zunehmenden Arbeitnehmer- und Bürgerbündnisse werden auch weiterhin die vielen Schattenseiten des Geschäftsmodells von Amazon aufzeigen, denn immer mehr Beschäftigte setzen sich für bessere Bezahlung und Bedingungen ein. Aber das wirtschaftliche Monopol und die politische Macht Amazons werden solange verheerende Wirkung haben, bis sie durch staatliche Regulierungen und deren Durchsetzung begrenzt werden – ob in Deutschland, anderen EU-Ländern oder den USA.