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Grenzübergreifende Unterrichtung und Anhörung

Europäische Betriebsräte feiern Jubiläum

Am 22. September 2016 haben wir das 20-jährige Bestehen einer Gesetzgebung gewürdigt, die multinationale Unternehmen verpflichtet, Arbeitnehmervertreter zu unterrichten und zu Unternehmensentscheidungen anzuhören, die Arbeitnehmer grenzübergreifend betreffen. Eine solche Gesetzgebung war dringend nötig.

Illustration Baustelle Europa
© Foto: EC - Audiovisual Service

Immer mehr Unternehmen treffen ihre Entscheidungen auf transnationaler Ebene, ohne sich um die Interessen der Arbeitnehmer zu scheren, und ignorieren den nationalen sozialen Dialog. Der Fall von Caterpillar in Belgien ist ein aktuelles eklatantes Beispiel. Die Erfahrungen aus über 1.000 Europäischen Betriebsräten (EBR), die im Laufe der Zeit eingerichtet wurden und (geschätzt) über 17 Millionen Arbeitnehmer vertreten, sowie Studien, politische Bewertungen und die Lektionen aus der Praxis machen es möglich, eine Bewertung vorzunehmen, Schlüsse zu ziehen und Perspektiven für die Zukunft zu skizzieren.

Infografik 20 Jahre EBR
Ein Link zu einer Vollbildansicht der Grafik findet sich am Ende des Beitrags. Die Grafik ist auch auf Englisch verfügbar.

Was sind Europäische Betriebsräte und wozu brauchen Arbeitnehmer sie?

Die EBR-Richtlinie gilt für Unternehmen, die mindestens 1.000 Beschäftigte und mindestens 150 Beschäftigte in je zwei oder mehr EU-Mitgliedstaaten haben. Sie verpflichtet multinationale Konzerne, Arbeitnehmervertreter aus unterschiedlichen Ländern mit der zentralen Unternehmensleitung zusammenzubringen. Der Zweck des Betriebsrats ist, Arbeitnehmer zur grenzübergreifenden Strategie des Unternehmens zu unterrichten und anzuhören.

Derartige Europäische Betriebsräte sind notwendig, da Unternehmen oft nicht innerhalb nationaler Grenzen ‚denken‘, planen oder handeln. Strategische Entscheidungen der Unternehmensleitung werden immer häufiger auf der zentralen (multinationalen) Ebene getroffen und wirken sich auf alle Tochterfirmen aus, ungeachtet ihres Standorts. Bis Mitte der 1990er Jahre handelten die betrieblichen Arbeitnehmervertreter national (oder lokal). Der Versuch, die Interessen der Arbeitnehmer auf lokaler Ebene zu verteidigen oder die Unternehmensstrategie zu hinterfragen, kommt jedoch dem Unterfangen gleich, eine Lawine aufzuhalten, die sich bereits – ohne Vorwarnung –ins Tal ergossen hat. In modernen multinationalen Konzernen führt der einzig effektive Weg zur Diskussion der Strategie über die supranationale Ebene (Unternehmenszentrale).

Einige Unternehmen haben dem lange vor dem EU-Gesetzgeber Rechnung getragen. In den 1980er Jahren begannen einige Betriebsräte französischer multinationaler Konzerne, Arbeitnehmervertreter aus dem Ausland informell zu ihren Sitzungen einzuladen. Erste wegweisende Vereinbarungen wurden Mitte der 1980er Jahre unterzeichnet. Als diese spontanen Basisinitiativen der Arbeitnehmer 1994 in Form einer EU-Richtlinie institutionalisiert wurden, hatten bereits 46 Unternehmen einen EBR eingerichtet. Bald sollten hunderte weiterer EBRs und Unternehmen folgen.

Warum sind EBR so bemerkenswert?

Die erste EU-Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung resultierte somit aus einer Initiative von Arbeitnehmern, die auf echten Bedürfnissen basierte. Sie hofften, dadurch in einer globalisierten Welt ihre Interessen wirksam verteidigen zu können. Es ist einer der wenigen Fälle, in denen der Einigungsprozess der EU von der Basis vorangetrieben wird. Die EBRs waren die erste wahrhaft europäische Institution der betrieblichen Interessensvertretung. Sie sind das Arbeitnehmerelement im gemeinsamen Markt der europäischen Firmen. Sie dienten als Vorbild für weitere europäische Richtlinien über die Rechte der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE, 2001), der Europäischen Genossenschaft (SCE, 2003) und auf nationaler Ebene (Rahmenrichtlinie von 2002, die EU-weite Rechte zur Einrichtung lokaler Betriebsräte einführte). EBRs haben dazu beigetragen, dass die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer als Grundrecht in den Chartas der EU anerkannt wurde.

Außerdem sind EBRs die am weitesten verbreitete Form der Arbeitnehmervertretung. Sie umfasst schätzungsweise 17 Millionen Arbeitnehmer, die durch rund 20.000 Delegierte vertreten werden. Damit tragen sie zunehmend der Notwendigkeit Rechnung, zu reagieren und die bestehenden einzelstaatlichen Unterrichtungs- und Anhörungskanäle durch Entsprechungen auf EU-Ebene zu ergänzen. Konkrete Beispiele für die EBR-Arbeit sind, die Unternehmensleitung zu beeinflussen, damit sie bei Standortschließungen Transferpläne für Arbeitnehmer entwickelt, Standortschließungen durch die Arbeitsteilung zwischen Werken und Ländern zu vermeiden (siehe z.B. General Motors), bei Massenentlassungen Sozialpläne zu erarbeiten und gute Praxis von einem Land in andere zu übertragen, um so die firmeninterne Kommunikation und Identität zu verbessern.

EBRs sind außerdem ein gelebtes Beispiel für Demokratie am Arbeitsplatz und tragen als solches dazu bei, das demokratische Defizit der EU zu verringern.

EBRs haben des Weiteren bewiesen, dass sie einen Mehrwert für die Wirtschaft liefern: Sie verbessern die Kommunikation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in grenzübergreifenden Situationen und tragen dazu bei, bessere und sozialverträglichere Lösungen bei der Bewältigung von Umstrukturierungen zu finden.

Länderflaggen EU © Foto: EU Kommission

Überblick: Mitbestimmung in Europa

Arbeitnehmer­vertreter und ihre Gewerkschaften sind heute mehr denn je darauf angewiesen, grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten. Doch wie funktionieren Gewerkschaften, Betriebsräte, Tarifverhandlungen & Co in den europäischen Nachbarländern? Ein erster Überblick.

Keine Rose ohne Dornen: zwanzig Jahre Auseinandersetzungen

Auch wenn EBRs mittlerweile fest zur Landschaft der Arbeitsbeziehungen in der EU gehören, hat dieses überwiegend positive Bild doch sichtbare Risse.

  1. Noch immer sind 39 Prozent aller EBR-Vereinbarungen von dem Typ, der vor Inkrafttreten der Richtlinie geschlossen wurde. Die erste EBR-Richtlinie bot die Möglichkeit, EBR-Vereinbarungen abzuschließen, die von den gesetzlichen Bestimmungen ausgenommen sind. Dies sollte ein Anreiz sein, um freiwillige Verhandlungen zu fördern (etwa 480 Unternehmen machten von der Möglichkeit Gebrauch). Für diese EBR gelten die Bestimmungen der Richtlinie weiterhin nicht (z. B. bessere Definition der Unterrichtung und Anhörung, Fortbildungsanspruch, Zugang zu Unterstützung durch die Gewerkschaften etc.). Natürlich sind nicht alle dieser EBR-Vereinbarungen schlecht. Aber für diejenigen EBR, die um ihre Rechte kämpfen müssen, ist es eine große Hürde, außerhalb des aktuell gültigen Rechtsrahmens zu stehen.
  2. Verschiedene Studien belegen, dass die offiziellen Rechte von EBRs nur allzu oft ignoriert und mit Füßen getreten werden. So zeigte eine Erhebung unter EBR-Mitgliedern (Waddington 2010) , dass nur eine kleine Minderheit von EBRs unterrichtet wird, bevor Entscheidungen endgültig getroffen (24 Prozent) oder öffentlich gemacht werden (37 Prozent). Ein noch geringer Anteil der EBRs wird angehört, bevor diese kritischen Zeitpunkte erreicht sind (20 Prozent bzw. 30 Prozent). Noch schlimmer: 13 Prozent der EBRs werden gar nicht unterrichtet und 30 Prozent nicht angehört. In einer aktuellen Umfrage unter Führungskräften (2016) bestätigen die Manager diese Ergebnisse. Hinzu kommt, dass es sie nicht einmal besonders zu stören scheint, dass sie Arbeitnehmerrechte missachten. Das ist äußerst enttäuschend, bedenkt man, dass es sich hierbei um die Kernrechte und den Hauptzweck von EBRs handelt.
  3. EBRs wird oft die Unterrichtung und Anhörung verweigert, weil die Unternehmensleitung Fragen als ‚lokal‘ und nicht grenzübergreifend darstellt. In einer globalisierten Wirtschaft und insbesondere in Unternehmen, die im EU-Binnenmarkt tätig sind, gibt es wohl kaum strategisch wichtige Unternehmensentscheidungen, die sich nur lokal auswirken.
  4. In ihrer grenzübergreifenden Arbeit fehlen vielen EBRs noch immer die notwendigen Mittel, um effektiv arbeiten zu können. Ein Beispiel: Sieben von zehn EBRs tagen nur einmal im Jahr, und nur zwei von zehn haben zwei Sitzungen jährlich. Eine größere Anzahl von EBRs hat sogenannte «engere Ausschüsse», die häufiger tagen. Dies erscheint aber kaum ausreichend, um einen dauerhaften Dialog mit der Unternehmensleitung zu pflegen, zu lernen als Team zusammenzuarbeiten, hoch technische Inhalte (z.B. im Zusammenhang mit Fusionen, Übernahmen oder Jahresabschlüssen) zu bearbeiten und Stellungnahmen der Arbeitnehmerseite zu erarbeiten. Zudem stehen die EBR-Mitglieder vor großen (sprachlichen und kulturellen) Herausforderungen bei der Kommunikation, da sie aus unterschiedlichen Ländern kommen und verschiedene Sprachen sprechen. Die Erfahrung zeigt, dass die gemeinsame Arbeit keine Selbstverständlichkeit ist, sondern das Ergebnis von mühevoll aufgebautem Vertrauen und Verständnis. Die Voraussetzungen hierfür sind ausreichend Zeit, Sitzungen, Fortbildungen, Beratung und Anleitung durch Sachverständige und nicht zuletzt auch genügend materielle und finanzielle Ressourcen, die das Unternehmen zur Verfügung stellen muss.

Die ‚heiße Kartoffel’ wurde an die Mitgliedstaaten abgegeben

Die EU-Gesetzgebung über die EBR sollte auf die Herausforderungen der Globalisierung für die Arbeitnehmer reagieren und sie vor deren negativen Folgen schützen. Das ist ihr in Teilen gelungen: Die Richtlinie selbst war ein politischer Kompromiss und blieb daher vage oder schwieg sich bei einigen wesentlichen Aspekten aus (z.B. der Definition des grenzübergreifenden Charakters, Zugang zu Unternehmensstandorten für EBR-Mitglieder). In einigen Bereichen gab sie die ‚heiße Kartoffel’ an die Mitgliedstaaten ab (z.B. Verknüpfung der Arbeitnehmervertretungen auf EU- und einzelstaatlicher Ebene, Durchsetzung und Sanktionen), indem sie diese verpflichtete, detaillierte Rechtsvorschriften zu verabschieden. Die nationalen Gesetzgeber waren jedoch nicht sonderlich erpicht darauf, die Richtlinie dergestalt auszulegen. Sie hielten am Minimum fest und übernahmen die Richtlinie eins zu eins in nationales Recht. Damit sehen die Arbeitnehmer und ihre Vertreter kaum einen Unterschied in ihrer rechtlichen Situation. Oft stehen sie faktisch ohne Recht da, vor Gericht Gerechtigkeit für Verletzungen ihrer Rechte zu suchen, oder sie glauben nicht, dass Gerechtigkeit möglich ist, da die Strafen für die Unternehmen lächerlich gering sind (in Polen beginnen sie z.B. bei 4 Euro). Das ist einer der Gründe, warum es in über 20 Jahren mit EBRs so wenig Gerichtsverfahren gab und nur wenige von ihnen erfolgreich waren, trotz offensichtlicher Rechtsverstöße der Unternehmen.

Eurobetriebsrats-Datenbank

Die EBR-Datenbank des Europäischen Gewerkschaftsinstituts in Brüssel bietet Zugang zu EBR-Vereinbarungen und Auswertungen von EBR- und SE-Vereinbarungen. Desweiteren finden sich Informationen zu Rechtsfragen und aktuellen Gerichtsurteilen. Wer sich kostenlos anmeldet, hat außerdem Zugriff auf ausgewählte Beispiele („Best Practice“) und kann Suchanfragen speichern.

Ausblick: Welche Zukunft liegt vor den EBRs?

In der Präambel zur EBR-Richtlinie äußert der europäische Gesetzgeber Wertschätzung für das Erreichte und verpflichtet sich, mehr und bessere EBRs zu schaffen. Vor diesem Hintergrund stellen sich drei Fragen:

  1. Haben sich EBRs als sinnvoll erwiesen und sind sie für die Zukunft der arbeitenden Bevölkerung Europas relevant?
    Die Antwort lautet: Sie sind nötiger denn je und der Bedarf an einer solchen Institution wird weiter steigen. Das Tempo der Umstrukturierungen erhöht sich ständig und sie sind mittlerweile ein fester Bestandteil des Unternehmensalltags. Arbeitnehmerrechte auf Unterrichtung und Anhörung sind das Minimum, zu schützen. Gleichzeitig leidet die EU unter Demokratie- und Legitimationsdefiziten, die man angehen kann, indem man der arbeitenden Bevölkerung konkrete Vorteile in ihrem Arbeitsalltag bietet. Hier kann die EU beweisen, dass sie tatsächlich für mehr Demokratie am Arbeitsplatz und besseren Schutz der Arbeitnehmer steht.
  2. Wird es künftig mehr EBRs geben? Im Laufe der Jahre wurden viele EBRs gegründet und über 980 sind heute noch aktiv.
    Aber diese Zahl ist vermutlich noch nicht das Ende der Fahnenstange. Schätzungen zufolge gibt es immer noch zahlreiche weitere Unternehmen, die einen EBR haben könnten. Gleichzeitig geht die Anzahl neugegründeter EBRs jedes Jahr zurück. Nach den vielen jährlich neugegründeten EBRs zu Beginn (70-90 zwischen 1997-2000) fiel die Zahl auf 30-50 pro Jahr und liegt in letzter Zeit unterhalb der 30er Marke.
    Die Politik muss sich folgende Frage stellen: Sollten die Schwellenwerte für die Anwendung der EBR-Richtlinie gesenkt werden oder sollten zunächst möglichst viele Unternehmen einen EBR nach der aktuellen Formel gründen? Dies ist sowohl eine politische wie auch rechtliche Frage (angesichts der Europäischen Charta der Grundrechte). Wie auch immer die Antwort auf diese Frage lautet: Derzeit wissen wir weder, wie viele Unternehmen in Europa einen EBR haben könnten, noch wie hoch die Zahl wäre, würden die Schwellenwerte geändert. Es gibt keine europäische Berichtspflicht und nur wenige Mitgliedstaaten haben Unternehmensregister, denen Beschäftigtenzahlen verpflichtend gemeldet werden müssen. Dieses eklatante Informationsdefizit erfordert eine politische Antwort.
  3. Wie sollte die nächste Gesetzesmaßnahme aussehen, um die ermittelten Defizite zu beheben?
    Die erste Option ist eine weitere Revision der EBR-Richtlinie. Einige argumentieren, dies sei der effektivste Weg, um Defizite der bestehenden Gesetzgebung zu beheben. Andere wiederum vertreten die Ansicht, dass eine ordnungsgemäße Durchsetzung durch die Europäische Kommission und eine gute nationale Umsetzung der Neufassung der Richtlinie von 2009, die über eine 1:1-Umsetzung der europäischen Richtlinie hinausgeht, Priorität haben sollten. Die Gewerkschaften, die um die oben genannten Probleme mit der Richtlinie wissen, sind mit dem Status quo unzufrieden und bewerten derzeit verschiedene Optionen. Der effektivste Ansatz wäre, die besten Elemente beider Ansätze zu verbinden: Eine effektive Anwendung der bestehenden Richtlinie von 2009 in Verbindung mit ihrer baldigen Reform.

EBRs sind nach 20 Jahren Praxis eindeutig zu einem wichtigen Teil der europäischen Arbeitsbeziehungen und einem wesentlichen Instrument der Arbeitnehmer geworden. Sie sind problembehaftet und nicht immer in der Lage, den Herausforderungen der wirtschaftlichen Realität gerecht zu werden. Gleichzeitig sind sie das Ergebnis eines echten Bedarfs und einer Initiative der Arbeitnehmer, und viele haben sich beim Schutz der Arbeitnehmerinteressen bewährt. Sie sind ein konkreter, greifbarer Vorteil des EU-Einigungsprozesses für die Arbeitnehmer und setzen das Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung in der Praxis um. Die Arbeitnehmer brauchen sie heute mehr denn je. Wenn der EU tatsächlich an einem sozialen Europa gelegen ist, sind die Entwicklung und Stärkung von EBRs ein guter Weg, diese Absicht zu beweisen.

Weiterführende Informationen

Infografik 20 Jahre EBR

Infografik: 20 Jahre Eurobetriebsräte

Vor 20 Jahren trat die EU-Richtlinie über Europäische Betriebsräte in Kraft. Eine Infografik des Europäischen Gewerkschaftsinstitus vermittelt anschaulich die Entwicklung in Zahlen. Sie ist in Deutsch und Englisch verfügbar.

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