Corporate Governance
Erosion der Mitbestimmung - Abkehr von der Sozialpartnerschaft
Die Mitbestimmung, zentral für die soziale Marktwirtschaft und wirtschaftliche Stabilität, wird durch Schlupflöcher und Gesetzesverstöße ausgehöhlt. Ein vermeidbarer Fehler, mahnt unser I.M.U.-Experte im Audit Committee Quarterly.
Die Mitbestimmung in Unternehmen steht unter Druck. Konzerne nutzen seit Jahren rechtliche Schlupflöcher oder verstoßen gegen Gesetze, um die Beteiligung von Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat zu umgehen. Und das, obwohl Kooperation und Sozialpartnerschaft einen Grundpfeiler des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft bilden. Mitbestimmung im Unternehmen ist gelebte Demokratie und steht für Vielfalt. Ein Gebot der Stunde, denn Studien belegen: Dies stärkt die positive Einstellung zur Demokratie insgesamt. Diese Errungenschaft ist ebenso in Gefahr wie deren positive wirtschaftliche Wirkung: So zeigen Untersuchungen von Ökonomen bspw., dass mitbestimmte Unternehmen mehr investieren und besser durch Wirtschaftskrisen kommen.
Den Trend einer zunehmenden Erosion der Mitbestimmung im Aufsichtsrat bestätigen die neuesten Zahlen, die die Hans-Böckler-Stiftung mit Unterstützung des Instituts für Rechtstatsachenforschung zum Deutschen und Europäischen Unternehmensrecht der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung von Prof. Walter Bayer veröffentlicht hat (Datenstand: 31.12.2022). Die Anzahl der Unternehmen, die die Unternehmensmitbestimmung durch Ausnutzen von Gesetzeslücken vermeiden – sei es gezielt oder als Nebeneffekt – oder entgegen ihrer Verpflichtung die Mitbestimmungsgesetze schlicht ignorieren, ist innerhalb weniger Jahre drastisch angestiegen:
Hatten im Jahr 2002 noch 767 Unternehmen einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, so waren es zwei Jahrzehnte später nur noch 656 Unternehmen. Zugleich umgehen mindestens 428 Unternehmen im Inland die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Damit sank der Anteil paritätisch mitbestimmter Unternehmen unter denen mit über 2.000 Beschäftigten innerhalb von nur drei Jahren von 67,5 Prozent auf 60,5 Prozent im Jahr 2022. In rund 40 Prozent der Unternehmen dieser Größe fehlt die demokratische Beteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat. Die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer*innen stieg von insgesamt gut 2,1 Mio. (2019) auf mindestens 2,45 Mio. (2022). Die Dunkelziffer dürfte aufgrund begrenzter Publizität noch höher sein.
Nicht weniger alarmierend sind die Ergebnisse zur Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat von Unternehmen mit 501 bis 2.000 Beschäftigten. Zwar ist die Gesamtzahl der drittelmitbestimmten Unternehmen mit ca. 1.500 nahezu unverändert gegenüber der vorherigen Erhebung von 2009. Gleichwohl ist dieser Bereich noch stärker von einer Umgehung betroffen, da das Drittelbeteiligungsgesetz erhebliche Lücken aufweist. Zudem wird die Mitbestimmung in diesem Bereich noch häufiger entgegen der gesetzlichen Vorgabe ignoriert (mehr als 800 Fälle). Den rund 1.500 drittelbeteiligten Gesellschaften stehen daher deutlich mehr als 2.000 größenvergleichbare tendenzfreie Unternehmen gegenüber, bei denen eine Drittelmitbestimmung fehlt.
Kritisch hervorzuheben ist:
- Besonders viele Handels- und Dienstleistungsunternehmen umgehen die Mitbestimmung. Aber auch in der Industrie ist dieses Problem verbreitet.
- Insbesondere Familienunternehmen in Deutschland umgehen die Beteiligung ihrer Beschäftigten. 66 Prozent der mindestens 256 Unternehmen, die die paritätische Aufsichtsratsbesetzung vermeiden, und 60 Prozent der mindestens 172 Unternehmen, die gesetzwidrig die paritätische Mitbestimmung ignorieren, sind in Familienhand.
- Rund drei Viertel aller Mitbestimmungsvermeider machen von den Möglichkeiten Gebrauch, die ihnen das EU-Gesellschaftsrecht eröffnet hat. 72 Unternehmen nutzen eine ausländische Rechtsform als Komplementär einer KG. Zentrales Vermeidungsinstrument ist aber die Europäische Aktiengesellschaft (SE). 68 der 87 SEs (ohne SE&Co.KG) mit mehr als 2.000 Beschäftigten in Deutschland waren als Vermeidungs-SEs einzustufen, darunter auch DAX-Unternehmen. Davon waren 52 ganz mitbestimmungslos und 16 unterparitätisch. 44 waren Familienunternehmen. Lediglich 19 SEs bzw. 22 Prozent hatten einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. Ein Drittel dieser paritätsvermeidenden SEs ist mit nahezu ausschließlich in Deutschland beschäftigten Belegschaften klar auf das Inland fokussiert – zwei Drittel davon wiederum Familienunternehmen. Dies führt das gesetzgeberische Ziel, den Binnenmarkt und die grenzüberschreitende Tätigkeit zu stärken und dabei die Arbeitnehmerbeteiligung zu schützen, ad absurdum. Hinzu kamen noch 35 SE & Co. KGs ohne Arbeitnehmerbeteiligung. Es ist alarmierend, wenn in fünf von sechs SEs mit mehr als 2.000 Inlandsbeschäftigten die paritätische Mitbestimmung fehlt. Angesichts dieser Erkenntnis wäre es zynisch, das 20-jährige Jubiläum der Rechtsform SE zu feiern.
Die Befunde zeigen eine Sabotage des Erfolgsmodells Mitbestimmung – auch durch namhafte Unternehmen. Man darf fragen: Werden diese Unternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht? Oder ist soziale Nachhaltigkeit nur ein Lippenbekenntnis? Es besteht die Gefahr, dass die Unternehmensmitbestimmung so ungewollt zur Beliebigkeit bzw. zum bloßen Wahlrecht der Unternehmen verkommt. Besonders das zunehmende Vorenthalten von Arbeitnehmerbeteiligung in nachwachsenden Unternehmen gefährdet die Zukunft des Systems. Es entsteht eine neue Generation von Unternehmen, die dauerhaft aus dem System der Mitbestimmung herausfallen: eine Hypothek für die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft – und eine Hypothek für die Zukunft der sozial-ökologischen Transformation.
Mitbestimmung auszuhöhlen, ist politisch sowie ökonomisch ein vermeidbarer Fehler. Die Ampelkoalition hatte im Koalitionsvertrag wichtige Maßnahmen zum Schutz der Mitbestimmung angekündigt. Mit dem Bruch der Koalition ist deren Umsetzung fraglich, aber nicht weniger notwendig, wenn das kooperative Modell der sozialen Marktwirtschaft nicht weiter an Boden verlieren soll.