Gute Praxis
Meine Zeit, mein Leben - Arbeitszeitgestaltung
Darum geht's
Arbeitszeiten zeitgemäß und fair zu gestalten, ist in den Fokus vieler Unternehmen gerückt. Welche Vorschläge haben Betriebsräte? Welche betrieblichen Lösungen wurden verankert? Wir haben hierzu Projekte untersucht, die für den Deutschen Betriebsrätepreis eingereicht wurden.
Einführung
Nicht zuletzt die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektrobranche haben die Diskussionen um eine moderne Arbeitszeitgestaltung aufleben lassen. Allgemein lassen sich bei der Gestaltung von Arbeitszeit zwei Trends erkennen: einerseits die Entwicklung von flexiblen und lebensphasenorientierten Arbeitsmodellen, andererseits das Streben nach fixierten Arbeitszeiten, um Überstunden einzufangen. Die Diskussion zeigt, dass die Gestaltung von Arbeitszeit nicht einer einheitlichen Linie folgt, sondern immer auf die Bedarfe der Beschäftigten zugeschnitten sein sollte.
In der Entwicklung von Arbeitszeitmodellen stellen Betriebsräte einen zentralen Akteur dar. Sie erleben hautnah, welche Bedürfnisse bei Beschäftigten vorhanden sind und wie sich diese Notwendigkeiten mit der Zeit entwickeln – denn der Umgang mit Arbeitszeiten unterscheidet sich zwischen den Generationen. Beobachtet wird, dass die freie Gestaltung der Arbeitszeit eine immer wichtigere Komponente darstellt. Vor allem junge Beschäftigte möchten autonom über ihre Zeit verfügen. Dabei müssen Lösungen gefunden werden, die eine selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung erlauben und zugleich den Umgang zum Schutz der Beschäftigten regulieren.
Doch wie wird das das Thema in den Unternehmen diskutiert? Welche Modelle werden in den Unternehmen zur Gestaltung der Arbeitszeit gelebt? Einen Einblick geben Projekte, die zwischen 2012 und 2017 beim Deutschen Betriebsrätepreis eingereicht wurden. Es finden sich unterschiedliche Projekte, die jeweils auf das Unternehmen zugeschnitten sind. Um einen umfassenden Eindruck von der jeweiligen Ausgangslage, den Bedürfnissen der Beschäftigten, der Umsetzung und den aktuellen Stand zu erhalten, wurden die beteiligten Betriebsräte interviewt. Als Ergebnis entstanden acht Porträts von Unternehmen, die unterschiedliche Lösungen im Umgang mit Arbeitszeit erarbeitet haben. Allen beteiligten Akteuren danken wir an dieser Stelle sehr herzlich für ihre Bereitschaft und Zeit!
Ergänzt werden die Projektergebnisse durch ein Experteninterview mit Yvonne Lott vom WSI (Wirtschafs- und Sozialwissenschaftliches Institut) in der Hans-Böckler-Stiftung. Sie gibt Einblicke in allgemeine Entwicklungstendenzen und im Besonderen dazu, wie flexible Arbeitszeitarrangements von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen genutzt werden und wie Geschlechterunterschiede in Unternehmen verstärkt werden können.
Basiserkenntnis
Zentral für die Entwicklung von neuen Arbeitszeitmodellen sind die Bedürfnisse der Beschäftigten. Viele Betriebsräte haben daher Umfragen und Workshops durchgeführt, in denen sie nach den individuellen Wünschen gefragt haben. Hieraus wurden konkret Arbeitsaufträge im Sinne der Beschäftigten formuliert. Ein solches Vorgehen ist unbedingt empfehlenswert, nicht zuletzt um den Rückhalt der Beschäftigten im Falle von Konflikten hinter sich zu wissen.
Meine Zeit, mein Leben!
Gute Praxis in der Arbeitszeitgestaltung – Projekte zum Deutschen Betriebsrätepreis der Jahre 2012 – 2017
Mitbestimmungspraxis, Nr. 18. Düsseldorf 2018 von Julia Massolle unter Mitarbeit von Julian Brettschneider Lázaro
Arbeitszeiten zeitgemäß und fair zu gestalten, ist in den Fokus vieler Unternehmen gerückt. Für diese Publikation wurden all jene Projekte in den Blick genommen, die zwischen 2012 und 2017 von Betriebsräten für den Deutschen Betriebsrätepreis eingereicht wurden und die sich thematisch mit Arbeitszeit befassten.
Das tun die Betriebsräte – Ergebnisse im Überblick
Die Portraits zeigen ein vielfältiges Spektrum im Umgang mit Arbeitszeit. Wurden in einigen Fällen mobile Arbeitsformen reguliert, beinhalten die Projekte anderer Unternehmen die Einführung von Arbeitszeitregularien und die Anpassung bereits vorhandener Arbeitszeitmodelle. Auch wurden neue Wege bei ungelösten Problemen gegangen. Die einzelnen Projekte in einer Zusammenfassung:
Zukunftsgerichtete, mobile Arbeitsformen
- Neue, zeitgemäße Arbeitszeitmodelle zur Attraktivitätssteigerung – KS Kolbenschmidt
Der Unterkonzernbetriebsrat hat mit einer Konzernrahmenbetriebsvereinbarung (KBRV) die Weichen für moderne Arbeitszeitgestaltung gestellt. Die KBRV beinhaltet einen Katalog moderner Arbeitszeitmaßnahmen, welche nach Bedarf an verschiedene Standorte übertragen werden. - Gesamtbetriebsvereinbarung zu mobilem Arbeiten – Daimler AG
Der Gesamtbetriebsrat der Daimler AG involvierte die Belegschaft in ein umfassendes Beteiligungsprojekt zur Anwendung mobiler Arbeit und setzte die Ergebnisse in der Gesamtbetriebsvereinbarung „Mobiles Arbeiten“ um.
Einführung von Arbeitszeitregularien
- Betriebsvereinbarung zur Familienförderung im Gesundheitssektor – Martin Gropius Krankenhaus
Als Reaktion auf den hohen Krankenstand setzte der Betriebsrat durch Neuregelung im Umgang mit Dienstplänen bessere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen durch und steigerte damit die Familienfreundlichkeit. - Einführung einer Betriebsverfassung für Arbeitszeiterfassung – Neue Westfälische Zeitung
Bei der Neuen Westfälischen wurde erstmals ein Zeiterfassungssystem für Redakteure eingeführt. Damit wurde in einem Bereich die Möglichkeit der Arbeitszeitregulation eingeführt, der von einer hohen Arbeitsintensität mit vielen Überstunden geprägt ist.
Anpassung vorhandener Modelle
- Neues Schichtsystem mit mehr Freizeit und Erholungsphasen – Lear Corporation Wismar
In harten Auseinandersetzungen mit der Werkführung setzt der Betriebsrat die Einführung eines neuen Schichtsystems durch. Dadurch reduziert sich die Arbeitszeit und die Beschäftigten verfügen über mehr Freizeit. - Sicherung der Altersfreizeittage für mehr Erholungsphasen von Schichtarbeitern – Renolit Frankenthal
Der Betriebsrat setzte sich gegen den Verfall von Altersfreizeittagen ein. In harten Auseinandersetzungen mit der Werksleitung und mittels Einigungsstelle wurde eine Betriebsvereinbarung für den flexibleren Umgang mit Altersfreizeittagen durchgesetzt.
Entwicklung von neuen Modellen
- Teilzeit im Außendienst – Bayer Vital
Der Betriebsrat der Bayer Vital entwickelt eine Lösung, die auch Vertriebsmitarbeitern im Außendienst Teilzeitarbeit ermöglicht. Dem vorausgegangen war ein klar formulierter Wunsch der Beschäftigten, in dem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bemängelt wird. Die Verhandlungen zogen sich über Jahre hin. - Lebensarbeitszeitkonto ermöglicht frühzeitigen Ausstieg – Mainzer Stadtwerke
Der Betriebsrat der Mainzer Stadtwerke hat sich für die Einführung eines Lebensarbeitszeitkontos eingesetzt, in das verschiedene Komponenten eingezahlt werden. Von den Beschäftigten wird das gesparte Guthaben lebensphasenorientiert genutzt, um längere Freistellungen zu gestalten.
Zeitgemäße Arbeitszeitmodelle – KS Kolbenschmidt
Mit einer Konzernrahmenbetriebsvereinbarung (KRBV) wurden die Weichen für eine moderne Arbeitszeitgestaltung gestellt.
Das Unternehmen
Die KS Kolbenschmidt GmbH ist in der Automobilbranche tätig und gehört seit 1997 zur Rheinmetall Gruppe. Von dem 15-köpfigen Betriebsratsgremium wurde 2017 die Rahmenbetriebsvereinbarung Arbeitszeitgestaltung beim Deutschen BetriebsräteTag eingereicht.
Moderne Arbeitszeiten als Attraktivitätsgewinn
Eine hohe Fluktuation junger Beschäftigter und eine hohe Konkurrenzsituation mit benachbarten Unternehmen waren Auslöser eine Konzernbetriebsvereinbarung zu modernen Arbeitszeitmodellen zu entwickeln. Hierdurch sollte die Attraktivität als Arbeitgeber gesteigert und damit ein Wettbewerbsvorteil geschaffen werden.
Markus Schaubel, BetriebsratsvorsitzenderJüngere Generationen kommen rein, die sagen: 'Das ist doch nicht mehr zeitgemäß. (…) Im alten Unternehmen hatte ich die und die Freiheitsgrade.'
Der Vereinbarungsprozess: Arbeitszeit der Zukunft
Das Vorhaben des Betriebsrates deckte sich mit Überlegungen des Arbeitgebers. In Workshops wurden beidseitige Ideen ausgetauscht, und nur ein halbes Jahr später die Rahmenbetriebsvereinbarung verabschiedet. Die Vereinbarung besteht aus unterschiedlichen Maßnahmen, welche eine bessere Integration der Arbeit in individuelle Lebenssituationen der Beschäftigten ermöglicht. Die Beschäftigten erhalten deutlich mehr Autonomie, aber auch Eigenverantwortung im Umgang mit ihrer Arbeitszeit. Die KRBV gibt ein Gerüst vor, sukzessive wurden an den einzelnen Standorten Betriebsvereinbarungen abgeschlossen.
Die Rahmenbetriebsvereinbarung beinhaltet u.a. Regelungen zu:
- Modifikation der Gleitzeitarbeit
- Mobiles Arbeiten
- Familien- und Pflegezeit sowie persönliche Auszeiten
- Elternzeit
- Teilzeitmodelle
- Führen in Teilzeit
- Job Sharing
- Vertrauensarbeitszeit
- Innovative Schichtsysteme
Neureglungen und Umsetzungsbeispiele
Eine der wichtigsten Neuregelungen betrifft die Flexibilisierung der Gleitzeit, indem Abstand zu starren Kern- und Pausenzeiten genommen wurde. Stattdessen geben betriebliche Rahmenzeiten einen weiter gefassten Zeitrahmen vor, was eher den Wünschen der Beschäftigten entspricht. Auf eine Kernzeit wird gänzlich verzichtet. Auch steht es jedem Beschäftigten frei, sich die Länge der verschiedenen Arbeitstage einzuteilen. Wichtig ist nur, dass am Monatsende die Gesamtzahl der Arbeitsstunden erreicht wird. Auch der Umgang mit Überstunden wurde neu reguliert, da diese früher ab einer bestimmten Grenze verfielen. Wird nun ein gewisses Limit überschritten, können die Stunden auf ein anderes Konto umgebucht werden, jedoch nur nach vorheriger Antragsstellung beim Vorgesetzten. Hierdurch soll der eigenverantwortliche Umgang gefördert werden; zugleich besteht Kontrolle über das Stundenkontingent.
Markus Schaubel, BetriebsratsvorsitzenderDas war bei uns eine Bedingung: kein Arbeitszeitverfall mehr.
Bewusst hat der Betriebsrat die Einführung einer Vertrauensarbeitszeit abgelehnt. Der Betriebsrat bezweifelt, dass beim Wegfall der technischen Zeiterfassung tatsächlich alle Überstunden erfasst werden. In einem Kompromiss einigte man sich schließlich auf eine freiwillige Anwendung bei leitenden Angestellten.
Besonders wichtig war dem Betriebsrat, dass mit der KRBV erstmalig das mobile Arbeiten geregelt wird. Sofern es die Arbeitsanforderung erlaubt, ist die mobile Zeitgestaltung nunmehr allen Beschäftigten tage- oder stundenweise gestattet. Dass Regelungen zum mobilen Arbeiten dringend erforderlich waren, wurde bei der Zählung von VPN-Zugängen deutlich. Zum Erstaunen – auch der Personalführung – verfügten an einem Standort bereits mehr als die Hälfte der Beschäftigten über einen solchen Zugang.
Markus Schaubel, BetriebsratsvorsitzenderDa hat er gesagt: 'Das geht so nicht.' Und so haben wir die Vereinbarung für mobiles Arbeiten abgeschlossen.
Zudem vereinbarte man Schichtmodelle weiter zu entwickeln. Auf dieser Grundlage wurden an einem Standort kürzere Schichtblöcke (2 - 3 statt 5) und statt der absteigenden aufsteigende Schichtfolgen eingeführt. Für die Beschäftigten hat das neue System den Vorteil, dass weniger Schichttage am Stück geleistet werden und statt eines großen Freizeitblocks mehr freie Tage zwischen den einzelnen Blöcken entstehen: Nachweislich ist dies gesundheitsschonender.
Markus Schaubel, BetriebsratsvorsitzenderAlle Belegschaften, die das gemacht haben, wollen nicht mehr zurück ins alte [Schichtsystem].
Weite Verbreitung in den Standorten
Resultierend beschreibt der Betriebsrat die Vereinbarung und ihre Umsetzung als „vollen Erfolg“. Die Erweiterung der Gleitzeit sowie die Regulierung des mobilen Arbeitens wurden an allen Standorten nach nur 1 ½ Jahren umgesetzt. Ein zukünftiges Anliegen des Betriebsrates ist es Führen in Teilzeit zu gestalten und im Unternehmen zu verbreiten.
Fazit: Rahmenbetriebsvereinbarung als Grundstein für moderne Arbeitsmodelle
Mit der Rahmenbetriebsvereinbarung wurde mehr Flexibilität im Umgang mit Arbeitszeit erreicht. Die Vereinbarung beinhaltet wichtige Elemente, die eine moderne und bedarfsgerechte Arbeitszeitgestaltung erfordert. Dem ursprünglichen Ziel, als Arbeitgeber attraktiver zu werden, kam man auch näher, weil Nachholbedarf aus Beschäftigtensicht bestand und weil umliegende Konkurrenzunternehmen sehr ähnliche Vereinbarungen verabschiedet hatten. Für den Betriebsrat ist zwar das große Thema Arbeitszeitgestaltung derzeit beendet, doch ist er sich dessen bewusst, dass es immer wieder einer Aufarbeitung und Sensibilisierung bedarf: insbesondere um nicht regulierte Bereiche frühzeitig zu erfassen und die Beschäftigten auf ihre Eigenverantwortung im Umgang mit ihrer Arbeitszeit hinzuweisen.
Markus Schaubel, BetriebsratsvorsitzenderDeswegen können wir sagen: 'Wir haben das Große, die Massen. Das haben wir alles abgearbeitet, erledigt. Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit (…) und natürlich auch das Thema mobile Arbeit geregelt.'
Markus Schaubel
Betriebsratsvorsitzender
KS Kolbenschmidt GmbH
Karl-Schmidt-Str. 2-8
74172 Neckarsulm
Tel. +49 (0) 7132 332900
markus.schaubel@de.rheinmetall.com
www.rheinmetall-automotive.com
Mobiles Arbeiten im Konzern - Daimler AG
Der Gesamtbetriebsrat der Daimler AG involvierte die Belegschaft in ein umfassendes Beteiligungsprojekt zur mobilen Arbeit und setzte die Ergebnisse in einer Gesamtbetriebsvereinbarung um.
Mobiles Arbeiten für den Daimler Konzern
Die Gesamtbetriebsvereinbarung gilt für den überwiegenden Teil der Beschäftigten des Daimler-Konzerns. Wo die Arbeitsaufgabe mobiles Arbeiten zulässt, kann mobil gearbeitet werden. Die Quote liegt derzeit bei 17 Prozent.
Auf neuen Pfaden der Mitbestimmung
Den Startschuss für das Projekt gab eine Beschäftigtenbefragung der IG Metall (2013). Der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und einer besseren Vereinbarung von Familie und Beruf im Umgang mit Arbeitszeiten war als Ergebnis klar erkennbar. Insbesondere zeigte sich dies bei den „neuen Beschäftigungsgruppen“ (jung, akademisch ausgebildet), die selten an Mitbestimmungsprozessen teilnehmen. Seitens des Betriebsrates und der Geschäftsführung bestand der Anspruch die Wünsche „ernst zu nehmen“ und in einem nachfolgendem Beteiligungsprojekt deutlicher zu identifizieren.
Jörg Spies, BetriebsratsvorsitzenderDer Wunsch nach mehr Selbstbestimmung in der Arbeit und besserer Vereinbarung von Familie und Beruf wurde als klare Botschaft an den Betriebsrat formuliert.
Umsetzung des Beteiligungsprojekts
Dafür wurden breitflächig Fragebogen verteilt und Workshops in allen deutschen Standorten durchgeführt. Die hohe Beteiligung der „neuen Beschäftigtengruppe“ bestärkte den Betriebsrat in seiner Vorgehensweise. Die Ergebnisse beider Methoden flossen direkt in die Verhandlungen über die Gesamtbetriebsvereinbarung ein. Um die Transparenz hierum zu erhöhen, wurden Zwischenergebnisse regelmäßig im Intranet veröffentlicht. Während der Verhandlungen waren sowohl Unternehmensvertreter als auch Betriebsrat auf gegenseitige Rücksichtnahme bedacht. So wurden anfangs Rahmenbedingungen wie Arbeitszeitgesetz und tarifliche Regelungen behandelt, um davon ausgehend die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens zu diskutieren.
Während der Projektlaufzeit wurde zusätzlich eine Pilotphase durchgeführt, um Erfahrungen mit dem mobilen Arbeiten zu sammeln. Bevor die Vereinbarung final festgeschrieben werden sollte, wurden die Erfahrungen in einer weiteren Befragung erfasst. Auch hier war die Beteiligung außerordentlich hoch.
Jörg Spies, BetriebsratsvorsitzenderNur aktive Einbindung sichert die neuen Beschäftigtengruppe für die Mitbestimmung.
Mehr als ein Anspruch – Recht auf mobiles Arbeiten
Die umgesetzte Gesamtbetriebsvereinbarung enthält ein explizites Recht auf mobiles Arbeiten ohne Begründungszwang. Damit kann der Wunsch der Beschäftigten nicht einfach ausgeschlagen werden. Außerdem gibt es für den Umfang der mobilen Arbeit keine Höchstgrenze, und die Möglichkeit dazu kann von Montag bis Freitag stunden- oder tageweise in Anspruch genommen werden. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass mobiles Arbeiten auch stundenweise an Samstagen zugelassen ist. Dies kommt der bisherigen Realität der Beschäftigten laut Betriebsrat näher. Dahinter steht die Idee, dass zwischen Beschäftigten und Führungskräften eine vertrauensvolle Zusammenarbeit etabliert wird, bei der Führungskräfte lernen, ihren Mitarbeiter*innen Selbstbestimmung zuzugestehen. Dies setzt einen Kultur- und Führungswandel voraus. Im Zusammenhang hiermit räumt der Betriebsrat ein, dass vereinzelt Umsetzungsschwierigkeiten in der Praxis auftauchen.
Dass die Verbreitung der mobilen Arbeit nicht zu Mehrarbeit führt, zeigt ein Blick auf die Zeitkonten, die seitdem nicht angewachsen sind. Dafür hat sich jedoch die individuelle Verteilung der Arbeitszeit stark verändert. Ein Nachweis dafür, dass die Beschäftigten mit der neuen selbstbestimmten Flexibilität sehr gut umgehen.
Mobiles Arbeiten verbreitet sich mehr und mehr
Das Angebot, mobil zu arbeiten, wird mittlerweile von einem großen Teil der Belegschaft angenommen: Waren es im September 2016 durchschnittlich etwa sechs Wochenstunden pro Beschäftigten, sind es mittlerweile 12 Stunden, und der Anteil steigt weiter an. Das Angebot zum mobilen Arbeiten wird demnach sehr gut angenommen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Beschäftigten nicht mehr vom Wohlwollen der Führungskräfte abhängig sind, sondern im Team selbst darüber bestimmen, ob und in welchem Umfang mobil gearbeitet wird. Somit wurde ein wichtiger Schritt in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan – und die bisherigen Möglichkeiten, etwa das Rückkehrrecht nach Teilzeit sowie Jobsharing-Konzepte auf Abteilungsleiterebene, um vor allen Dingen Frauen in Managementpositionen zu fördern, wurden weiter ausgebaut.
Fazit
Die Einführung der Betriebsvereinbarung „Mobiles Arbeiten“ bildet den Anfang eines Prozesses des Betriebsrats zur Umgestaltung der Unternehmens- und Arbeitskultur bei der Daimler AG. Durch das transparente Vorgehen hat es der Betriebsrat geschafft, sogar diejenigen Beschäftigten zu erreichen, welche bislang nicht in einer Gewerkschaft organisiert sind und sie in einen Beteiligungsprozess einzubinden Gleichzeitig konnte der Betriebsrat auf diese Weise für neue Beschäftigtengruppen attraktive Arbeitsplätze gestalten und zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen.
Jörg Spies
Betriebsratsvorsitzender (IGM)
Daimler Zentrale, Truck und Van Stuttgart
Mitglied des Gesamtbetriebsrats
HPC E603
70546 Stuttgart
Tel. +49 (0) 711 1733545
joerg.spies@daimler.com
Familienförderung im Gesundheitssektor - Martin Gropius Krankenhaus
Der Betriebsrat des Martin Gropius Krankenhauses reagierte auf den hohen Krankenstand: Er setzte bessere Arbeits- bzw. Beschäftigungsbedingungen durch und steigerte damit die Familienfreundlichkeit.
Das Krankenhaus
Die Martin Gropius Krankenhaus GmbH ist ein psychiatrisches Krankenhaus in Eberswalde, und beschäftigt ca. 800 Personen.
Die Ausgangslage: hohe Unzufriedenheit, hoher Krankenstand
Unter den Beschäftigten zeigte sich eine massive Unzufriedenheit hinsichtlich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Die Beschäftigten klagten über hohe physische und psychische Belastungen, die sich in einem sehr hohen Krankenstand widerspiegelte. Kritisiert wurde von den Beschäftigten, dass der Arbeitgeber Überstunden ohne Absprache anordnete und es keinen Plan zum Abbau gab. Üblich war es, dass Beschäftigte an dienstfreien Tagen angerufen wurden, um bei Personalmangel auszuhelfen – selbst krank gemeldete Beschäftigte waren davon nicht ausgenommen. Als sehr belastend empfanden die Beschäftigten außerdem die Dienstplangestaltung, die bis zu dreizehn aufeinander folgende Dienste inklusive fünf bis sieben Nachtdienste vorsah. Unter diesen Bedingungen ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur schwer möglich.
Das Projekt zur Förderung von Familie und Beruf
Mit dem Projekt Förderung von Familie und Beruf beabsichtigte der Betriebsrat die Situation der Beschäftigten zu verbessern. Grundsätzliches Ziel war es, den Beschäftigten mehr Regenerations- und Erholungszeiten zu ermöglichen. Auf mehreren Informationsveranstaltungen wurden die Beschäftigten nach ihren Bedürfnissen gefragt und gemeinsame Ziele formuliert. Im Laufe des Projekts wurde vom Betriebsrat anwaltliche Beratung hinzugezogen und letztlich eine Betriebsvereinbarung formuliert.
Durch die Initiative des Betriebsrats wurde der Arbeitgeber selbst aktiv und veranlasste eine Gefährdungsbeurteilung. Das Ergebnis bestätigte die Forderung des Betriebsrats und benannte als weiteren Grund für die schlechten Arbeitsbedingungen einen deutlichen Mangel an Pflegepersonal. Der Einführung der Betriebsvereinbarung wurde schließlich zugestimmt.
Ingo Zimmermann, stellv. BetriebsratsvorsitzenderNein, das ist unsere Freizeit und Familie – das ist uns wichtig!
Umsetzung der Belange von Beschäftigten
In der Betriebsvereinbarung ist festgehalten, dass eine Angabe der privaten Telefonnummer nunmehr auf freiwilliger Basis erfolgt. Gegenüber kranken Beschäftigten wurde ein striktes Kontaktverbot eingeführt. Das Problem der ausufernden Überstunden wurde durch die Einführung eines Mehrarbeitszeitkontos mit einer Grenze von 60 Überstunden angegangen – bei Überschreitung muss dem Betriebsrat ein Plan zum Überstundenabbau vorgelegt werden.
Auch wurde die Dienstplangestaltung grundlegend verändert. Für eine bessere Planbarkeit werden diese drei Monate im Voraus und gemeinsam mit dem Betriebsrat erstellt. Weiterhin wurde festgehalten, dass nur zehn Dienste hintereinander geleistet werden dürfen und darauf zwei freie Tage folgen. Die Anzahl der Nachtdienste am Stück wurde auf fünf begrenzt, anschließend erfolgen zwei freie Tage. Der Betriebsrat hat außerdem durchgesetzt, dass er bei jeder Änderung des Dienstplans informiert werden und der jeweiligen Änderung zustimmen muss. Zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird zudem vermehrt auf Wünsche der Beschäftigten mit Kindern eingegangen.
Ingo Zimmermann, stellv. BetriebsratsvorsitzenderVorher konnte der Arbeitgeber machen, was er wollte.
Hohe Zufriedenheit in der Belegschaft
Rückblickend bewertet der Betriebsrat die neue Vereinbarung als Erfolg. Dies drückte sich auch in der diesjährigen Betriebsratswahl aus, bei der das Gremium mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde. Gelobt wird die Änderung der Dienstplangestaltung und die dadurch verbesserte Möglichkeit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Ebenso hervorzuheben ist die ausgeweitete Mitbestimmung des Betriebsrats bei Änderung des Dienstplans. Eine Verbesserung des Krankheitsstandes ist jedoch nicht eingetreten, was auf eine generelle wachsende Arbeitsverdichtung zurückgeführt wird.
Ingo Zimmermann, stellv. BetriebsratsvorsitzenderWeil wir als Betriebsrat da sehr streng sind und unsere Mitbestimmung da komplett in Betracht ziehen. Bei jeder Dienstplanänderung muss der Betriebsrat mit einbezogen werden.
Fazit: Eingrenzung von Flexibilität zum Schutz der Beschäftigten
Der Betriebsrat des Martin Gropius Krankenhauses hat bewiesen, dass auch in den schwierigen Strukturen des Pflegesektors Verbesserungen im Sinne von Beschäftigten möglich sind und Mitbestimmungsrechte erweitert werden können. Durch die Betriebsvereinbarung wurden die Flexibilitätsansprüche des Arbeitgebers, durch u. a. ein striktes Kontaktverbot bei Krankheit, deutlich eingedämmt. In der Ausrichtung hat sich der Betriebsrat eng an den Bedarfen der Beschäftigten orientiert, was ihm innerbetrieblich einen hohen Zuspruch zugesichert hat. Als strategischer Vorteil erwies sich die Gefährdungsbeurteilung – sie hat die Forderungen unterstrichen und Handlungsdruck ausgeübt. Auch zukünftig werden weitere Projekte zur Verbesserung der Familienfreundlichkeit angestrebt. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in der Pflege können gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen dazu beitragen, den Pflegeberuf attraktiver zu machen.
Ingo Zimmermann, stellv. BetriebsratsvorsitzenderFür diese Veränderungen brauchen wir ein starkes Rückgrat – den Zusammenhalt im Gremium und der Belegschaft –, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Da sind wir stark und halten durch. Das kommt dann auch allen zu Gute, auch dem Arbeitgeber.
Ingo Zimmermann
Stellvertretender Betriebsratsvorsitzender
Oderberger Straße 8
16225 Eberswalde
Tel. +49 (0) 3334 53385
betriebsrat@mgkh.de
Einführung von Arbeitszeiterfassung - Neue Westfälische
Die Neue Westfälische hat erstmals ein Zeiterfassungssystem für Redakteure eingeführt. Damit wurde in einem Bereich die Möglichkeit der Arbeitszeitregulation geschaffen, der von vielen Überstunden geprägt ist.
Der Zeitungsverlag
Im Zeitungsverlag Neue Westfälische arbeiten rund 370 Beschäftigte, darunter 118 Redakteure.
Zeitungsredaktionen – Branchenkultur mit hoher Arbeitsintensität
Wie in jeder Zeitungsredaktion fallen auch in der Neuen Westfälischen oft Überstunden an. Die Arbeitsdauer überschreitet gelegentlich zehn Stunden. Der Betriebsrat beschreibt, dass dies fest in der Branche verankert und teilweise unausweichlich ist. Eine genau planbare tägliche Arbeitszeit ist unvereinbar mit den Aufgaben von Redeakteuren. Doch fehlte es in der Vergangenheit an einer grundlegenden Arbeitsplanung: Überstunden sind nicht systematisch erfasst und Wochenenddienste kurzfristig festgelegt worden.
Arno Ley, BetriebsratsvorsitzenderEs hat skurrile Sachen gegeben. Da kamen Redakteure, wenn sie in den Ruhestand gehen wollten oder sollten, die hatten noch Dutzende, in Einzelfällen sogar deutlich über 100 Tage für Wochenenddienste stehen. Sie hatten also effektiv sechs, teilweise sieben Tage in der Woche gearbeitet und diese Tage nicht abgefeiert.
Stichprobenartige Zeiterfassung zeigt Arbeitsauftrag
Um die Forderungen des Betriebsrates zu bekräftigen, wurde zunächst stichprobenartig die Arbeitszeit erfasst. Das Ergebnis war deutlich – in der Redaktion fielen massive Überstunden an. Für den Betriebsrat war dies die Basis, um aktiv zu werden, denn die Ergebnisse haben den akuten Handlungsbedarf gezeigt.
Der Prozess bis zur Betriebsvereinbarung
Das Vorhaben des Betriebsrates stieß intern auf heftigen Widerstand. Der damalige Geschäftsführer befürchtete erhebliche Mehrkosten durch zusätzliche Einstellungen. Auch unter den Redakteuren standen manche dem Vorhaben kritisch gegenüber. Der Betriebsrat begründet diese Haltung mit der Berufskultur, in der die Notwendigkeit für geregelte Arbeitszeiten verkannt werde.
Die Betriebsvereinbarung – ein umfangreiches Paket zur Zeitregulierung
Der erste Entwurf einer Betriebsvereinbarung wurde gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di ausgearbeitet, die vom Arbeitgeber abgelehnt wurde. Man stritt sich vehement – und schließlich entschied nach langen wie konfliktreichen Verhandlungen eine Einigungsstelle hierüber.
Neben der Verpflichtung ein Zeiterfassungssystem einzuführen, beinhaltet die Betriebsvereinbarung eine Reihe weiterer Elemente. So wurden Kernarbeitszeiten und die Einführung von Dienstplänen vereinbart. Zugleich wurde auf Wunsch der Betroffenen geregelt, dass Redakteure bis zu 40 Plus- und Minusstunden ansammeln dürfen. Wird die Grenze überschritten, müssen diese abgebaut werden.
Das Resümee des Betriebsrates: viele positive Effekte
Der positive Effekt der Betriebsvereinbarung zeigt sich für den Betriebsrat an mehreren Stellen. Zum einen hat die Zeiterfassung zur Sensibilisierung und Bewusstmachung bei den Redakteuren beigetragen – das Maß der Überstunden wurde hierdurch klar aufgezeigt.
Arno Ley, BetriebsratsvorsitzenderWir haben vorher nie drauf geguckt, wir wussten, dass wir zu viel arbeiten, wie viel wir eigentlich der Branche geschenkt haben, wussten wir ja gar nicht.
Zum anderen beobachtet der Betriebsrat einen vorausschauenden Umgang mit Urlaubszeiten, was vor allem durch die Dienstpläne erklärbar ist. Kritisch wird reflektiert, dass die Zeiterfassung noch nicht reibungslos funktioniert: es werden zu wenige Stunden notiert – auch weil die Eintragung teilweise von Ressortleitern durchgeführt wird. Zudem ist das Zeiterfassungssystem als solches in der Handhabung zu unübersichtlich. Unter den Redakteuren zeige sich nach wie vor ein geteiltes Lager – der Anteil jener Beschäftigten, die das System ablehnten, hätte jedoch mit der Zeit deutlich abgenommen.
Arno Ley, BetriebsratsvorsitzenderIch gehe davon aus, dass deutlich zu wenig eingetragen wird. Die Mitarbeiter dokumentieren nicht alles.
Selbstkritisch räumt der Betriebsrat Fehler bei der Umsetzung der Betriebsvereinbarung ein. Nach der Einführung ist die Anwendung nicht gut genug kontrolliert worden, so dass Anwendungslücken entstanden. Aktuell zeige sich dies an einer hohen Überstundenanzahl. Dennoch ist der Betriebsrat davon überzeugt, mit der Betriebsvereinbarung den richtigen Weg eingeschlagen zu haben: Sie übe eine deutliche Schutzfunktion aus. Ebenso hätten durch die Zeiterfassung die Aufgaben in der Redaktion einen zeitlichen Bezug erhalten. In Zeiten sinkender Auflagenzahlen ist dies ein wichtiges Argument, um einen willkürlichen Stellenabbau zu verhindern. Durch einen Wechsel in der Geschäftsführung sei mittlerweile ein sehr kooperatives Verhältnis entstanden.
Arno Ley, BetriebsratsvorsitzenderDen meisten, wenn nicht allen ist bewusst, dass unsere Arbeitszeiterfassung einen maßgeblichen Anteil daran trägt, dass in der Berufsgruppe der Redakteure bisher deutlich weniger Stellen gekürzt worden sind als in anderen Bereichen.
Fazit: Betriebsvereinbarung sichert Zeiterfassung
Der Betriebsrat der Westfälischen Zeitung hat durch eine Betriebsvereinbarung ein System zur Arbeitszeitregulierung gegen innerbetrieblichen Widerstand eingeführt. Strategisch war das Ergebnis einer Stichprobe hilfreich, das ihre Forderungen unterstrich. Fehler räumt der Betriebsrat bei der Anwendung der Betriebsvereinbarung ein. Bemerkenswert ist, dass die Arbeitszeit in einem Bereich reguliert wurde, in dem die Branchen- und Berufskultur dies üblicherweise ablehnt. Das macht die Betriebsvereinbarung zu einem guten Branchenbeispiel, bei dem der Schutz der Beschäftigten im Vordergrund steht.
Arno Ley
Betriebsratsvorsitzender
Niedernstraße 21 - 27
33602 Bielefeld
Tel. +49 (0) 521 555676
arno.ley@neue-westfaelische.de
Neues Schichtsystem für mehr Erholung - Lear Corporation
Der Betriebsrat des Lear Corporation Wismar setzt gegen erheblichen Widerstand ein neues Schichtsystem um, das den Beschäftigten mehr Freizeit ermöglicht.
Das Unternehmen
Das Werk in Wismar ist einer von 240 Produktionsstandorten, bei dem rund 270 Beschäftigte arbeiten.
Die Tarifbindung zurückholen: eine Motivation des Betriebsrats
Dem neuen Schichtmodell vorausgegangen war die Zurückgewinnung der Tarifbindung. Der ausgehandelte Übergangstarifvertrag sah vor, dass die üblichen tariflichen Regelungen des Bezirkes wieder greifen und die Entgelte stufenweise an das Tarifniveau angepasst werden. Entgegen der bisherigen Praxis wurde ein Sieben-Tage-Schicht-Modell in der Produktion eingeführt und die Pausen nicht mehr vergütet. Als Folge erhöhte sich die wöchentliche Arbeitszeit auf die in der Region üblichen 38 Stunden. Diese Zugeständnisse seien „bittere Pillen“ gewesen, ohne die jedoch eine Tarifbindung nicht erreicht worden wäre, so der Betriebsrat.
Veränderte Rahmenbedingungen führen zur Unzufriedenheit
Rund hundert Beschäftigte arbeiten in der Produktion bei ganzjährigen Temperaturen von 30 bis hin zu mehr als 35 Grad Celsius. Ohne die bezahlten Pausen ist deutlich weniger Erholung möglich. Das geleistete Stundenkontingent wuchs, gleichzeitig kam es vor, dass nach einem Arbeitsblock von sieben Tagen lediglich 1 ½ freie Tage gewährt wurden. Ergänzend dazu, so schildern die Betriebsräte, hatte sich über die Jahre das Arbeitsvolumen deutlich verdichtet. Dort wo früher sechs Maschinen von einem Beschäftigten bedient wurden, sind es heute bis zu zwölf.
Die enorme körperliche Beanspruchung mit gesundheitsgefährdenden Fehlbelastungen war eine Sorge. Unter den Beschäftigten machte sich ein Gefühl breit, schikaniert, ungerecht und nicht wertschätzend für die harte körperliche Arbeit behandelt zu werden. Diese intensive Unzufriedenheit in der Belegschaft war von den Betriebsräten nicht erwartet worden.
Andreas Schulz, BetriebsratsvorsitzenderWir haben das auch ein bisschen unterschätzt in der Tarifkommission. Das muss man auch wirklich so sagen. Wir haben gedacht, das passt schon, wenn die Kolleginnen und Kollegen 15 % mehr Geld durch die Tarifbindung haben.
Entwicklung von zwei alternativen Schichtmodellen
In Workshops mit den Beschäftigten konkretisierte der Betriebsrat die Wünsche und Forderungen. So wurden zwei neue Schichtmodelle entwickelt, die eine Rückkehr zur 35-Stunden-Woche sowie 16 Tage mehr Freizeit ermöglichten.
Andreas Schulz, BetriebsratsvorsitzenderWenn wir [tariflich] voll angeglichen sind, ist es unsere erste Aufgabe, dass wir die 35h für unsere Schichtarbeiter zurück erkämpfen. So haben wir das dann auch in Angriff genommen.
Durchsetzung der Forderungen trotz heftiger Gegenwehr
Das Management lehnte ein neues Schichtsystem grundlegend ab und argumentierte mit deutlichen Mehrkosten. So verschärften sich Anspannung und Konflikte im Betrieb. Der Betriebsrat ging einen Schritt weiter: Er kündigte die Betriebsvereinbarung über das bestehende Schichtsystem. Das Amt für Gesundheit und Soziales wurde informiert, dass mit der Kündigung die Arbeit am Wochenende nicht mehr zulässig sei. Die Wirkung war eine alarmierte Werksleitung, die drohte, das Werk zu schließen. Im Nachhinein brachte der eskalierte Konflikt die Wende und führte zu ernsthaften Verhandlungen. Der Druck auf die lokale Werksleitung durch das europäische Management, jetzt schnell eine Lösung zu finden, war immens.
Jörg Fischer, stellv. BetriebsratsvorsitzenderDann haben wir die Einigungsstelle angerufen und dann ging es los. Dann wurde es erstmal ernst genommen, was wir hier machen wollen.
Nach über fünfzig Verhandlungen und zehn Sitzungen der Einigungsstelle konnte eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden. Dabei hatte sich der Einigungsstellenleiter einem Schichtmodell des Betriebsrates angeschlossen. Nur noch maximal sechs Schichten bei mindestens zwei bis vier freien Tagen in Folge sind jetzt möglich.
Befragung zeigt hohe Zufriedenheit mit dem neuen Schichtsystem
Nach einem Jahr im neuen Schichtsystem befragte der Betriebsrat die Belegschaft. Mit einem Anteil von 80 Prozent wurde eine Rückkehr zum alten Sieben-Tage-Block-Modell abgelehnt. Diese Antwort bestätigte den Betriebsrat in seinem Handeln.
Jörg Fischer, stellv. BetriebsratsvorsitzenderDadurch haben die Kollegen 16 Tage in 56 Wochen mehr Freizeit.
Rückblickend beurteilt der Betriebsrat die Betriebsvereinbarung als vollen Erfolg. Er ist überzeugt, dass damit Erkrankungen vorgebeugt werden. Die hartnäckigen Verhandlungen haben eine hohe Akzeptanz des Betriebsrates in der Belegschaft erwirkt. Mit den neuen Regelungen ist der Arbeitgeber attraktiver für neue Arbeitskräfte geworden: angesichts eines zunehmenden Fachkräftebedarfs ein wichtiges Argument, das mittlerweile auch von der Werksleitung als Werbemittel eingesetzt wird. Auch zukünftig orientiert sich der Betriebsrat am Zeitgeist der Beschäftigten, die mehr Autonomie einfordern.
Jörg Fischer, stellv. BetriebsratsvorsitzenderDeswegen ist das immer noch ein Werdegang, den wir weiterverfolgen und neu bewerten. Das Ding lebt immer noch. Im Prinzip ist das alles ein ständig zu verbessernder Prozess.
Fazit: neues Schichtmodell sorgt für mehr Erholung
Den Betriebsräten der Lear Corporation Wismar ist es gegen erheblichen Widerstand gelungen, die Bedingungen bei der Arbeitszeitgestaltung zu optimieren. Dabei wurden Lösungen erarbeitet, die auf die Bedürfnisse der Beschäftigten ausgerichtet sind, die im direkten Austausch erfasst wurden. Durch das Vorgehen des Betriebsrates ist der interne Rückhalt enorm gestiegen. Für sein mutiges Engagement erhielt der Betriebsrat die Silber-Auszeichnung beim Deutschen Betriebsrätetag.
Jörg Fischer, stellv. BetriebsratsvorsitzenderEs war schwieriger das optimierte 21-Schichtmodell durchzusetzen, als den Tarif zurück zu erkämpfen.
Andreas Schulz
Betriebsratsvorsitzender
Erwin-Fischer-Straße 95
23968 Wismar
Tel. +49 (0) 3841 640275
aschulz@lear.com
Jörg Fischer
Stellv. Betriebsratsvorsitzender
Erwin-Fischer-Straße 95
23968 Wismar
Tel. +49 (0) 3841 640275
jfischer04@lear.com
Sicherung der Altersfreizeittage - Renolit
Der Betriebsrat der Renolit, Niederlassung Frankenthal, setzte sich gegen den Verfall von Altersfreizeittagen ein.
Das Unternehmen
Das Werk in Frankenthal ist eines von fünf Produktionsstandorten der Renolit-Gruppe in Deutschland. Rund 360 Personen sind hier beschäftigt, die Hälfe davon arbeitet im Schichtsystem.
Die Altersfreizeit der Chemiebranche
Die Altersfreizeit ist seit vielen Jahren Bestandteil des Manteltarifvertrags in der Chemiebranche. Sie regelt zusätzlichen Freizeitanspruch bei vollem Lohnausgleich in Abhängigkeit von Alter und Arbeitsmodell. Eingeführt wurde sie, um durch zusätzliche Regenerationsphasen die Belastung von älteren Beschäftigten zu senken. Ein Anspruch auf 2,5 Stunden Altersfreizeit pro Woche besteht ab 57 Jahren. Beschäftigte, die in einem kontinuierlichem Schicht- oder in einem Zweischichtsystem arbeiten, erhalten diesen Ausgleich bereits ab 55 Jahren. Arbeiten Beschäftigte länger als 15 Jahre in einem vollkontinuierlichem Wechselschichtsystem, erhöht sich die Altersfreizeit auf 3,5 Stunden pro Woche. Grundsätzlich kann der Zeitpunkt der Altersfreizeit frei zwischen den Betriebsparteien vereinbart werden. Für Beschäftigte in Schichtsystemen wird die Altersfreizeit mehrerer Wochen zu Freischichten zusammengeführt.
Die betriebliche Ausgangslage: Verfall von Altersfreizeit
Kern einer Betriebsvereinbarung ist die in der Chemiebranche vereinbarte Altersfreizeit. Ab einer bestimmten Altersgrenze und zusätzlich bei Schichtarbeit, stehen den Beschäftigten jährlich 130 – 182 freie Stunden zur Regeneration zu. Bei Renolit sind die Altersfreizeittage wegen des hohen Durchschnittsalters und hohen Krankenstandes ein wichtiges Element in der Arbeitszeitgestaltung. Aktuell haben 40 Prozent der Beschäftigen Anspruch; in den nächsten drei Jahren wird der Anteil auf 50 Prozent steigen. Wegen der hohen gesundheitlichen Belastung ist die Altersfreizeit besonders für Beschäftigte im Schichtdienst wichtige Erholungszeit.
Auslöser, sich mit den Altersfreizeittagen auseinanderzusetzen, war eine fragwürdige Praxis der Personalabteilung: Hatte ein Beschäftigter Urlaub, verfiel nicht nur der Anspruch auf Altersfreizeit, sondern es gab zudem einen Abzug vom AZV-Konto. Der Unmut über diese Handhabung war unter den Beschäftigten immens.
Stefan Köglmeier, BetriebsratsvorsitzenderDas hat den Leuten mächtig gestunken, dass sie die Altersfreizeit umgewandelt bekommen haben und haben es dann durch die AZV abgezogen bekommen, (…). Für uns war das ein wichtiger Grund bei der Geschichte und wir haben dann versucht eine Regelung zu implementieren.
Konfliktreiches Klima im Unternehmen
Die Betriebsräte des Werkes hatten sich das Ziel gesetzt, keine Ansprüche der Beschäftigten mehr verfallen zu lassen.
Stefan Köglmeier, BetriebsratsvorsitzenderGar kein Tag wird in Abzug gebracht, weil diese Altersfreizeittage haben ihre Berechtigung, wir sehen das nicht ein, dass hier was abgezogen wird.
Die Werksleitung lehnte jede Verhandlung und jeden Kompromiss kategorisch ab. In diesem Zusammenhang schildert der Betriebsrat, dass nicht nur beim Thema Altersfreizeittage, sondern generell ein sehr konfliktreiches Verhältnis bestehe: Unzählige Forderungen des Betriebsrates und selbst die Teilnahme an Fortbildungen würden regelmäßig in Frage gestellt.
Ein langer Aushandlungsprozess mit zahlreichen Sitzungen
Bis zum Abschluss der Betriebsvereinbarung sollten zwei Jahre mit zahlreichen Verhandlungen und Sitzungen bei Einigungs- sowie Schiedsstellen vergehen. Mit gewerkschaftlicher Unterstützung wurde eine erste Betriebsvereinbarung entworfen. Der Durchbruch im Aushandlungsprozess gelang erst durch die Klage eines Beschäftigten. Das Landesarbeitsgericht entschied für den Beschäftigten: Altersfreizeit darf nicht im Urlaub verfallen.
Stefan Köglmeier, BetriebsratsvorsitzenderDas war für uns die Berechtigung zu sagen: ich habe Recht gekriegt, also können wir loslegen, was die Firma allerdings nicht akzeptiert hat.
In einer Schiedsstelle wurde schließlich die Betriebsvereinbarung abgeschlossen. Als Kompromiss wurde vereinbart, dass alle Beschäftigten auf ein bis zwei Tage der Altersfreizeit verzichten. Der Anspruch auf alle anderen Altersfreizeittage bleibt restlos bestehen. Zudem wurde ein flexiblerer Umgang vereinbart, so dass mehrere Tage nun zu größeren Freizeitblöcken zusammengestellt werden können.
Betriebsvereinbarung brachte positive Veränderung
Mit der Umsetzung der Betriebsvereinbarung zeigt sich der Betriebsrat rundum zufrieden. Die schwierigen Auseinandersetzungen haben deutlich den Rückhalt der Belegschaft für den Betriebsrat gestärkt.
Stefan Köglmeier, BetriebsratsvorsitzenderDie Leute planen am Jahresanfang ihre Altersfreizeit, die Tage, die ihnen zustehen und seitdem gibt es auch keine Unruhen mehr im Haus.
Weiterer Handlungsbedarf beim Thema Arbeitszeit wird von den Betriebsräten in der Produktion gesehen. Gerne würde der Betriebsrat ein gesundheitsschonenderes und familienfreundlicheres Schichtsystem entwickelt. Beides sind seiner Einschätzung nach wichtige Komponenten bei der Gewinnung von Fachkräften. Im unmittelbaren Umkreis gäbe es Unternehmen mit deutlich attraktiveren Schichtmodellen – viele ehemals Beschäftigte hätten bereits zu dieser Konkurrenz gewechselt. Auch wäre ein neues Schichtmodell ein erster wichtiger Schritt, den hohen Krankenstand im Unternehmen abzubauen.
Für die Zukunft wünscht sich der Betriebsrat deutlich mehr Zugeständnisse der Werksleitung, um die harte Arbeit der Beschäftigten wertzuschätzen. Ebenso wäre Kooperationsbereitschaft erstrebenswert, um zukünftig gerichtliche Auseinandersetzungen – nicht zuletzt wegen der hohen Kosten – zu vermeiden.
Fazit: Durchsetzung der Forderung gegen erheblichen Widerstand
Bemerkenswert für das Fallbeispiel Renolit Frankenthal ist der überaus hohe Durchsetzungswille der Betriebsräte. Gegen erheblichen Widerstand haben sie an ihrer Vorstellung einer fairen Arbeitszeitgestaltung im Sinne der Beschäftigten festgehalten. Den Durchbruch erzielte man durch die Klage eines Beschäftigten. Dies zeigt, dass jeder Einzelne zur Umsetzung guter Arbeits- bzw. Beschäftigungsbedingungen beitragen und das Engagement des Betriebsrates unterstützen kann. Inhaltlich hat sich der Betriebsrat für eine tariflich fixierte Arbeitszeitkomponente eingesetzt. Dadurch wird deutlich, dass Tarifverträge ein wichtiges Gerüst bei der Gestaltung von Arbeitszeit darstellen, deren Umsetzung auf der betrieblichen Ebene jedoch weiterer Regulierung bedarf.
Stefan Köglmeier
Betriebsratsvorsitzender
Franz-Nissl-Str. 2
67227 Frankenthal
Tel. +49 (0) 6233 3211333
stefan.koeglmeier@renolit.com
Teilzeit im Außendienst - Bayer Vital
Der Betriebsrat der Bayer Vital machte sich für ein Teilzeitmodell im Außendienst stark.
Das Unternehmen
Bayer Vital ist als Tochterunternehmen des Bayer-Konzerns für den deutschlandweiten Vertrieb von Healthcare-Produkten zuständig. Im Innen- und Außendienst arbeiten rund 1.400 Personen.
Eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf als Ausgangsmotivation
Das Projekt Teilzeit im Außendienst wurde mit dem Deutschen Betriebsrätepreis in der Kategorie „Arbeitszeitgestaltung“ ausgezeichnet. Die Ursprünge des Projektes liegen viele Jahre zurück. Damals wurde der Betriebsrat mit einer Reihe von Beschwerden über die Arbeitszeitmodelle konfrontiert, die eine Vereinbarung von Familie und Beruf erschwerten. Vor allem Frauen verließen oftmals aus Mangel an Alternativen das Unternehmen. Auch wirkte sich die hohe Belastung von Beruf und Familie auf die Gesundheit der Beschäftigten aus, was in einigen Fällen Langzeiterkrankungen zur Folge hatte. Die Beschwerden, die erkennbare Unzufriedenheit sowie der Abgang vieler qualifizierter Beschäftigter waren für den damaligen Betriebsrat Auslöser, sich grundlegend mit den Bedürfnissen der Beschäftigten auseinanderzusetzen.
Michael Westmeier, BetriebsratsvorsitzenderKlar war: Wir haben hier ein to-do. Wir müssen was unternehmen. Aber wir müssen erstmal erfahren, was wir anpacken sollen. Was sind die Probleme, wer hat welchen Bedarf und wie sehen die dahinter stehenden Lösungen aus?
Teilzeit im Außendienst als deutlicher Wunsch
Ein deutliches Bild über die Wünsche lieferte eine Umfrage: so sollte Teilzeit im Außendienst ermöglicht werden. Die Umsetzung eines entsprechenden Modells wurde vor allem durch die ablehnende Haltung des Arbeitgebers erschwert. Begründet wurde dies mit einem erwarteten Kostenanstieg sowie mit dem Aufbau der Vertriebsstruktur: Ganz Deutschland sei in Abhängigkeit von den örtlichen Strukturen in Außendienstgebiete unterteilt und diese seien so gewählt, dass ein Vollzeitbeschäftigter sie bedienen könne. Würde nun ein Beschäftigter den Stundenanteil reduzieren, wäre nicht mehr das komplette Gebiet abgedeckt, weswegen die Grenzen der umliegenden Gebiete verschoben werden müssten – ein zu großer Aufwand bei schätzungsweise 700 Außendienstgebieten.
Michael Westmeier, BetriebsratsvorsitzenderDas Unternehmen hat klar und deutlich gesagt: „Teilzeit im Außendienst gibt es nicht.“ Das geht natürlich an der Lebenswirklichkeit der Beschäftigten vorbei.
Erarbeitete Lösung wird sehr gut angenommen
Erst nach einem Geschäftsführerwechsel fand der Betriebsrat Unterstützung. In mehreren Workshops wurde ein beidseitiger Kompromiss erarbeitet, bei dem der Betriebsrat der Außendienststruktur gefolgt ist und der Arbeitgeber einer flexibleren Gestaltung von Vollzeitarbeitsplätzen zugestimmt hat. Beschäftigte können nun über eine Dauer von drei Jahren Teilzeit in Anspruch nehmen. Dabei werden nicht die Stundenzahl pro Arbeitstag, sondern die Arbeitstage pro Woche reduziert. Die restliche freie Arbeitszeit übernimmt in einem Jobsharing-Modell entweder ein anderer Beschäftigter oder ein Leiharbeitnehmer. Da das Teilzeitmodell nicht zu Lasten von Leiharbeitnehmern gelebt werden sollte, wird der Leiharbeitnehmer für ein Jahr befristet übernommen.
Michael Westmeier, BetriebsratsvorsitzenderAlle waren begeistert. Tolles Programm, tolles Modell. Funktioniert in der Praxis, ist ein bisschen Aufwand für die Vorgesetzten, weil sie mehr Leute zu führen haben, ansonsten alles überschaubar und alle waren zufrieden.
Der Betriebsrat zeigt sich durchweg zufrieden mit dem heutigen Modell. Bis zu 30 Teilzeitpärchen gleichzeitig haben das Modell bislang in Anspruch genommen.
Michael Westmeier, BetriebsratsvorsitzenderDaran kann man halt erkennen, dass das System funktioniert. Dieses Arbeitszeitmodell wird angenommen. Es unterliegt einer gewissen Schwankung, wobei es tendenziell nach oben gegangen ist.
Weitere Entwicklung des Teilzeitmodells
Bislang haben vorwiegend Frauen die Teilzeit genutzt. Der Betriebsrat erwartet, der Anteil der Männer werde sich zukünftig steigern. Begründet wird dies mit den aufbrechenden Rollenmustern und mit einer veränderten Zielgruppe: den Beschäftigten, die vor dem Renteneintritt stehen. Im Vergleich zu branchenähnlichen Unternehmen hat Bayer Vital ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen. Zwar gibt es Teilzeitmodelle auch in anderen Unternehmen, die Festhaltung der Regelungen in einer Betriebsvereinbarung ist jedoch einzigartig. In direkter Konkurrenz um qualifiziertes Personal hat Bayer Vital dadurch einen Vorteil.
Für die Zukunft rechnet der Betriebsrat mit einem Ausbau von flexiblen bzw. mobilen Arbeitsformen, insbesondere im Außendienst, wo die Arbeit mit digitalen Tools zunimmt. Eine Herausforderung sei es, gute Regelungen zu vereinbaren, um Beschäftigten neue Möglichkeiten in der Arbeitszeitgestaltung einzuräumen und zugleich die Freizeit zu schützen.
Fazit: Arbeitszeitmodelle eng an Wünschen der Beschäftigten ausgerichtet
Bayer Vital hat einen Weg eingeschlagen, der eine flexiblere, an die Bedarfe der Beschäftigten orientierte Gestaltung von Arbeitszeit ermöglicht. Zur strategischen Orientierung war eine anfängliche Befragung sehr hilfreich. Mit der Teilzeit im Außendienst wurde die Möglichkeit einer flexibleren Gestaltung auch auf den Außendienst erweitert. Zu betonen ist dabei, dass dies nur aufgrund der über Jahre anhaltenden Hartnäckigkeit des Betriebsrates möglich war. Es wurde eine Lösung erarbeitet, die eine Integration in den starren Strukturen des Außendienstes zulässt. Die Auszeichnung mit dem Sonderpreis unterstreicht das innovative Vorgehen sowie die Besonderheit dieser Betriebsvereinbarung. Betriebsintern hat die Auszeichnung für viel Aufmerksamkeit beim Arbeitgeber und unter den Beschäftigten gesorgt. Für den Betriebsrat ist dies motivierend, weiterhin gesetzte Ziele mit eigenen Ambitionen und Ideen zu verfolgen.
Michael Westmeier
Betriebsratsvorsitzender
Gebäude K 56, 5E259
51368 Leverkusen
Tel. +49 (0) 214 3051164
michael.westmeier@bayer.com
Lebensarbeitszeitkonto - Mainzer Stadtwerke
Um längere Freistellungen zu gestalten, hat sich der Betriebsrat der Mainzer Stadtwerke für die Einführung eines Lebensarbeitszeitskontos eingesetzt.
Das Unternehmen
Rund 600 Beschäftigte sind bei den Mainzer Stadtwerken angestellt. Es besteht ein hoher Altersdurchschnitt; viele Beschäftigte werden in absehbarer Zeit in den Ruhestand eintreten.
Um längere Freistellungen zu gestalten, hat sich der Betriebsrat der Mainzer Stadtwerke für die Einführung eines Lebensarbeitszeitskontos eingesetzt.
Das Unternehmen
Rund 600 Beschäftigte sind bei den Mainzer Stadtwerken angestellt. Es besteht ein hoher Altersdurchschnitt; viele Beschäftigte werden in absehbarer Zeit in den Ruhestand eintreten.
Claudia Voggeneder, stellv. BetriebsratsvorsitzendeWenn man 10, 15 Jahre im Prinzip kaum jemanden einstellt, dann fehlt diese Altersgruppe (…) Den Altersdurchschnitt hat das schon stark erhöht.
Alterclusterung zeigt Bedürfnislagen der Beschäftigten
Um eine Übersicht über die Bedürfnislagen der Beschäftigen zu erhalten, führte der Betriebsrat eine Clusterung der Lebensphasen durch. Ein Ergebnis war, dass die Bedürfnisse derjenigen, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, nicht ausreichend abgedeckt waren. Den Beschäftigten fehlte die Möglichkeit frühzeitig in den Ruhestand einzutreten. Die Wiedereinführung eines Altersteilzeitmodells schloss der Arbeitgeber aus.
Frank Vieheller, BetriebsratsvorsitzenderAlle Altersteilzeitregelungen waren ausgelaufen. Der Arbeitgeber hat kein neues Programm aufgelegt und dann haben wir das aufgegriffen für den vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand.
Der Betriebsrat wollte eine Möglichkeit schaffen, mit der Beschäftige vorzeitig aus dem Unternehmen ausscheiden können. Dabei sollte sich ein ähnlich langer Zeitraum wie bei den regulären Altersteilzeitmodellen ergeben. Anregungen erhielten die Betriebsräte durch den gültigen Tarifvertrag, der eine Öffnungsklausel für ein Langzeitkonto beinhaltete: Man griff dies auf und entwickelte in Kooperation mit dem Arbeitgeber ein eigenes Modell.
Entwicklung eines Lebensarbeitszeitkontos
Während der Erwerbszeit können Beschäftigte Guthaben auf einem Langzeitkonto ansparen. Das Guthaben kann sich aus mehreren Komponenten zusammenstellen: Teil des Bruttoentgelts, Urlaubstage, Überstunden oder Sonderzahlungen. Auf dem Langzeitkonto eingezahlt, wird das Guthaben in den entsprechenden Geldwert umgerechnet. Für den Betriebsrat war es wichtig, dass die Einzahlungen zum Schutze der Beschäftigten gedeckelt sind. Z. B. können nur maximal zwei Urlaubstage und 10 Prozent des Bruttogehaltes eingezahlt werden. Planen die Beschäftigte eine Freistellung, können sie auf das angesparte Geld zurückgreifen und enthalten als Entgeltausgleich 75 bis 125 Prozent des Bruttolohnes. Während der eigentlichen Freistellung bleiben die Beschäftigten Mitarbeiter der Mainzer Stadtwerke.
Claudia Voggeneder, stellv. BetriebsratsvorsitzendeDass man nur zwei Urlaubstage einbringen kann, darauf haben wir schon Wert gelegt, weil wir gesagt haben, wir wollen nicht, dass die Kollegen von sechs Wochen Urlaub vier Wochen einzahlen und nur zwei Wochen Urlaub machen. Urlaub dient der Regeneration.
Ein Anspruch auf ein Lebensarbeitszeitkonto besteht ab einer halbjährigen Beschäftigung. Das Konto wird – losgelöst vom Unternehmen – durch einen externen Dienstleister verwaltet, sodass es bei einem Arbeitgeberwechsel problemlos mitgenommen werden kann. Das Konto wird digital geführt: Beschäftigte können ihre individuellen Buchungen selbst steuern. Die Konten selbst werden durch einen Anlagenausschuss überwacht, der sich aus Vertretern des Betriebsrates sowie dem Finanz- und Rechnungswesen zusammensetzt.
Vorwiegend ältere Beschäftigte nutzen Konto
Mittlerweile verfügen rund 10 Prozent der Belegschaft über ein Konto - überwiegend ältere Beschäftigte. Für den Betriebsrat wurde damit die Zielgruppe erreicht: Ältere Beschäftigte zeigen sich zufrieden und nutzen das Modell für den Vorruhestand. Rund drei bis vier Monate sind somit Beschäftigte früher aus dem Unternehmen ausgeschieden. Kritisch merken die Betriebsräte an, dass mit einem höheren Anteil jüngerer Beschäftigter gerechnet worden war. Die Betriebsräte sehen es so, dass viele Beschäftigte das Konto mit einer festen Bindung an das Unternehmen gleichsetzen. Die Möglichkeit, dieses mitnehmen zu können, wird dabei weniger beachtet. Für die Zukunft wünschen sich die Betriebsräte, das Konto würde häufiger für andere Freistellungsmöglichkeiten genutzt, etwa anlässlich eines Sabbaticals.
Frank Vieheller, BetriebsratsvorsitzenderAuf jeden Fall positive Erfahrungen. Bei den Arbeitnehmern, die das machen, wird es positiv angenommen.
Resultierend beschreiben die Betriebsräte das Lebensarbeitszeitkonto als gelungene Ergänzung zur lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung. Für die Beschäftigten sei so eine Möglichkeit geschaffen worden, ihre Freiräume zu organisieren. Kritisch reflektieren die Betriebsräte, dass dies ohne Zuzahlungen des Arbeitgebers geschehe.
Claudia Voggeneder, stellv. BetriebsratsvorsitzendeIst natürlich ein super Deal für den Arbeitgeber.
Mittlerweile gibt es ein neues Vorruhestandsmodell. Auch vor diesem Hintergrund beurteilen die Betriebsräte das Lebensarbeitszeitkonto als zusätzliche Komponente, die keinesfalls den Umfang eines regulären Altersteilzeitmodells ersetzen kann.
Fazit: Lebensarbeitszeitkonto ermöglicht mehr Autonomie
Die Betriebsräte der Mainzer Stadtwerke haben mit dem Lebensarbeitszeitkonto eine Möglichkeit für Beschäftigte geschaffen, Freiräume in Abhängigkeit von ihren Lebensphasen zu gestalten. Damit ist der Betriebsrat dem Bedürfnis vieler Beschäftigter nach einem vorzeitigen Ruhestand gefolgt. Im Vergleich zu anderen Lebensarbeitszeitkonten zeichnet sich dieses Modell dadurch aus, dass über die üblichen Überstunden hinaus verschiedene Komponenten eingebracht werden können. Eine Besonderheit ist weiterhin, dass das Konto losgelöst vom Unternehmen verwaltet wird. Resümierend ist das Lebensarbeitszeitkonto als ergänzende Möglichkeit für Beschäftigte zu beurteilen.
Claudia Voggeneder, stellv. Betriebsratsvorsitzende
Frank Vieheller, Betriebsratsvorsitzender
Rheinallee 41
55118 Mainz
Tel. +49 (0) 6131 126050
claudia.voggeneder@mainzer-netze.de
betriebsrat@mainzer-netze.de
Expertengespräch mit Yvonne Lott
Yvonne Lott...
beschäftigt sich seit 2013 in der Hans-Böckler-Stiftung aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Themen rund um die Arbeitszeit. Aktuell beforscht sie schwerpunktmäßig die Themen Arbeitsintensivierung sowie die Auswirkungen von flexiblem Arbeiten auf das Einkommen von Frauen und Männern.
Welche Entwicklungen nimmst Du bei der Gestaltung von Arbeitszeiten wahr?
Generell spielen flexible Arbeitszeiten eine immer größere Rolle. Die IG Metall hat 2013 eine Beschäftigtenbefragung durchgeführt, und dabei stellte sich heraus, dass sich Beschäftigte mehr Flexibilität und Autonomie bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit wünschen. Wir beobachten allerdings, dass das Thema Flexibilität von Beschäftigten und Arbeitgebern unterschiedlich diskutiert wird. Beschäftigte fordern Flexibilität für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Arbeitgeber nehmen den Punkt auf, unterstützen diesen auch, fordern Flexibilität jedoch in einem anderen Sinne: Das Arbeitszeitgesetz passe nicht mehr zur Arbeitsrealität, zu den betrieblichen Erfordernissen. Arbeitgeber plädieren für die Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit und der vorgeschriebenen gesetzlichen Erholungszeit. Der BDA ist schon vor zwei Jahren in die Diskussion eingestiegen, die FDP ist dem vor kurzem nachgefolgt und hat einen Entwurf zur Flexibilisierung in den Bundestag eingebracht. Bei der ganzen Diskussion verschwimmen die verschiedenen Arten von Flexibilität. Mit Flexibilität ist oft Unterschiedliches gemeint. Nicht alle Formen von flexiblen Arbeitszeitarrangements unterstützen die Beschäftigten in gleichem Maße. Ob betriebliche Maßnahmen zur Förderung von flexibler Arbeitszeitgestaltung tatsächlich gut für die Beschäftigten sind, hängt entscheidend von der Ausgangsmotivation des Arbeitgebers ab.
Welche Art der Flexibilität wünschen sich die Beschäftigen?
Wir haben Beschäftigte im Hinblick auf gesetzliche Arbeitszeitoptionen befragt. Es zeigte sich, dass sie kürzere Arbeitszeiten bevorzugen würden – kürzer im Vergleich zu ihrer jetzigen Arbeitszeit. Dies deckt sich mit der Beschäftigtenbefragung der IG Metall. Innerhalb der Interviews wurden gezielt auch Schichtarbeiter befragt: Diese Beschäftigtengruppe wünscht sich vor allem mehr Gleitzeit, sie möchte selbst über die Anfangs- und Endzeiten des Arbeitstages bestimmen können.
Zeigen sich bei der Nutzung flexibler Arbeitszeitarrangements Unterschiede zwischen den Beschäftigtengruppen?
Das ist auch ein interessanter Punkt, weil nicht alle Beschäftigtengruppen in gleichem Maße über flexible Modelle wie etwa das Home Office verfügen. Vor allem höhere Statusgruppen haben mehr Zugang zu solch flexiblen Arrangements. Es muss also die Verteilungsfrage bei der Implementierung flexibler Arbeitszeiten in den Fokus rücken.
Worauf wird es hier aus Sicht der Beschäftigten ankommen?
Flexibles Arbeiten muss vor allem gut gemacht werden und an die Bedarfslage der Beschäftigten angepasst sein. Flexibles Arbeiten hat wegen der besseren Vereinbarkeit sehr viele Vorteile, aber die Gefahr besteht, dass flexibles Arbeiten nur im Sinne des Betriebes genutzt wird. So zum Beispiel, wenn es eher eine High-Performance-Strategie für die Hochqualifizierten ist, die dann eben noch mehr Gas geben, wenn sie autonom arbeiten können.
Oft wird in einem Atemzug mit der Flexibilisierung auch das Stichwort der Digitalisierung genannt: Wie wird sich diese Entwicklung und der Prozess der Arbeit 4.0 auf die Organisation von Arbeitszeiten auswirken?
Zur Beantwortung der Frage muss zunächst der Begriff der Digitalisierung erklärt werden. Was genau ist unter Digitalisierung zu verstehen? Was ist damit gemeint, wenn man über Digitalisierung redet?
Der Digitalisierungsprozess ist immer mit anderen Prozessen und Entwicklungen verknüpft. Es gibt Szenarien, in denen Digitalisierung mit Arbeitsintensivierung oder mit einer unzureichenden Personalbemessung einhergehen. Je nachdem, was eigentlich mit der Digitalisierung verbunden ist, hat es auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Beschäftigten. Die Forschung zu den Folgen der Digitalisierung steckt noch in den Kinderschuhen – hier brauchen wir belastbare empirische Ergebnisse.
Durch die Verbreitung mobiler Kommunikationsmittel wie Smartphones, Tablets und Laptops besteht das Risiko, dass es zu einer noch stärkeren Ausweitung von Arbeitszeiten kommen wird, besonders in kompetitiven Arbeitsfeldern. Mobile Kommunikationsmittel können zu einer Entgrenzung von Arbeit führen, was sich negativ auf die Gesundheit und auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie auswirken kann. Betriebliche Regelungen und Vereinbarungen müssen hier gegensteuern: Wie sollen Geräte wie Smartphones, Laptops und Tablets verwendet werden? Welche Erwartungen der Erreichbarkeit werden an Beschäftigte gestellt? Diese Fragen müssen in den Betrieben geklärt werden.
Was wird in dem Zuge wichtiger werden? Mehr Flexibilität oder Fixierung von Arbeitszeiten?
Es ist definitiv wichtig, dass Beschäftigte über Arbeitszeit und Arbeitsort mitbestimmen können bzw. Zugang zu flexiblen Arbeitszeitarrangements haben. Sie brauchen selbstbestimmte Flexibilität zur Gesunderhaltung sowie zur Vereinbarung von Beruf und anderen Tätigkeiten wie Weiterbildungen, Kinderbetreuung, Pflege oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Wichtig ist aber, dass flexible Arbeitsarrangements verlässlich sind. Beschäftigte müssen sich darauf verlassen können, etwa dienstagsnachmittags früher zu gehen oder freitags von zu Hause zu arbeiten. Es bedarf also auch einer verbindlichen Flexibilität, damit Beschäftigte planen können.
Welche Gefahren siehst Du bei der Entwicklung moderner Arbeitszeitmodelle?
Oft sind besonders Frauen bei der Implementierung flexibler Arbeitsarrangements im Fokus, da das Vereinbarkeitsthema traditionell als Frauenthema gedacht wird. Flexible Arbeitsarrangements, die sich nur an Frauen richten, können Geschlechterungleichheiten verstärken, wenn vor allem Frauen ihre Arbeitszeit an außerberufliche Bedarfe anpassen, die Männer hingegen weiter voll arbeiten. Hinzu kommt, dass die Länge der Arbeitszeiten oft als Signal für Leistungsbereitschaft gilt und Maßstab für Beförderung oder Gehaltserhöhungen ist. Solange diese Denkweise in der Betriebskultur verankert ist, kann es eine Verstärkung der Geschlechterungleichheiten in den Betrieben durch flexible Arbeitsarrangements geben.
Was sollte beachtet werden, um das zu verhindern?
Es ist unverzichtbar, dass sich das Angebot flexibler Arbeitsarrangements als Vereinbarkeitsinstrument an Männer und Frauen gleichzeitig richtet. Natürlich können auch explizit Männer angesprochen werden – beispielsweise kann die Elternzeit ein Karrierebaustein sein. Äußerst wichtig ist es zudem, dass die Geschlechterungleichheit bei der Implementierung flexibler Arbeitsarrangements immer in den Blick genommen wird.
Noch mehr 'Gute Praxis'
Es gibt viele gute betriebliche Lösungen zu aktuellen Problemen – entwickelt von und mit Betriebsräten. Wir zeigen einige und liefern Erfahrungen mit, wie neue Ideen verhandelt und kreativ umgesetzt wurden. Unsere Praxisbeispiele können Euch und Eurer Betriebsratsarbeit als Inspiration dienen. Bisher erschienen sind die folgenden Module: