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Strategisches Personalrisikomanagement

Personalrisiken – ein unterschätzter strategischer Faktor

Die Hans-Böckler-Stiftung fördert die Entwicklung von Handlungs- und Orientierungswissen bei der Einschätzung relevanter Personalrisiken. Erste Projektergebnisse liegen vor.

In seiner Kontroll- und Beratungsfunktion sollte der Aufsichtsrat den Vorstand im Sinne des § 91 Abs. 2 AktG begleiten. Damit ist die anforderungsgerechte Einrichtung eines Überwachungssystems der Früherkennung von „den Fortbestand der Gesellschaft gefährdenden Entwicklungen“ gemeint – kurz: „Risikomanagement“ als gesetzliche Verpflichtung des Unternehmens. Spätestens seit der Einführung des KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich von 1998) werden Unternehmen dazu aufgefordert, ein Risikofrüherkennungssystem einzurichten und zu betreiben. Zusätzlich sind Informationen zu den Risiken und zur Risikostruktur im Lagebericht zu publizieren. Außerhalb des Aktienrechts gilt Ähnliches äquivalent bei anderen Unternehmensformen. Um hier einige Beispiele zu nennen: Bei der GmbH gilt § 43 des GmbHG und damit die Sorgfalt des ordentlichen Geschäftsmannes, bei Banken gelten das MARisk und Basel III, für Versicherungen gilt Solvency II und für öffentliche Organisationen der § 53 HGrG. 

Ohne Personalrisikomanagement keine Personalstrategie!

Gängige Risikofelder bei den verschiedenen Organisationen sind Finanzrisiken, Umfeld- und Branchenrisiken, unternehmensstrategische Risiken, leistungswirtschaftliche Risiken, informationstechnische Risiken und eben auch Personalrisiken (vgl. Deutscher Rechnungslegungsstandard Nr. 20 [DRS 20]). Bedauerlicherweise ist aber kaum wissenschaftliche Empirie zu den Personalrisiken vorhanden, zugleich werden insbesondere die Risiken hinsichtlich strategieadäquater Personalplanung (Kompetenz, Zeit, Anzahl, Kosten) im Risikomanagement der meisten Unternehmen nicht hinreichend beachtet. Da das Risikomanagement nicht nur auf Vermeidung von Risiken abzielt, sondern ebenso auf die Wahrnehmung von Chancen als auch die bewusste Steuerung von Risiken im Sinne eines Frühaufklärungssystems oder strategischen Radars, fehlt vielen Unternehmen die Grundlage für eine anforderungsgerechte und zukunftsgerichtete Personalstrategie.

Die Hans-Böckler-Stiftung fördert deshalb seit dem Frühsommer 2020 ein Forschungsprojekt, dessen Ziel es ist, die Mitgestaltungskraft der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu erweitern. Mittels der Berichterstattung der Personalrisiken im Lagebericht und damit auch der notwendigen Quantifizierung von Personalrisiken in Form von Kennzahlen, abgeleitet durch Indikatoren, soll dies umgesetzt werden. Mit den Projektergebnissen sollen Aufsichtsräten wichtige Argumente und Expertise für eine anforderungsgerechte und zukunftsgerichtete Personalstrategie an die Hand gegeben werden. Das Projekt trägt den Namen: „Transformation und Personalstrategie“ (TuP). 

ICON Nachhaltigkeit im Überblick

Projekt „Transformation und Personalstrategie“

Transformation und Personalstrategie Steuerung von Personalrisiken im Aufsichtsrat
Das Thema Risikomanagement ist im Allgemeinen zu stark auf Finanzrisiken ausgerichtet. Hier liegt sowohl eine klare Schwäche der Strategiefähigkeit des Personalmanagements als auch ein blinder Fleck der Unternehmensmitbestimmung vor. Mit den in diesem Projekt entwickelten Ansätzen kann das strategische Personalmanagement auch durch Initiativen des Aufsichtsrates hilfreiche Impulse erhalten. Neben einer Bestandsaufnahme wird die empirische Analyse den Aspekt der sich zukünftig verändernden Anforderungen in den Blick nehmen.

Bereits im Jahr 2005 hat Christopher Paul im Rahmen seiner Forschungsarbeit für die Hans-Böckler-Stiftung zum Thema „Personalrisikomanagement“ darauf hingewiesen, dass hier Chancen der strategischen Mitgestaltung im Zuge der verschärften Regulierung ungenutzt bleiben. (Paul C., 2005, S. 45). Gerade Aufsichtsräte sind zur Steuerung der Personalrisiken auf eine angemessene Informationsgrundlage angewiesen. Dies setzt voraus, dass die mit der Personalstrategie verbundenen Risiken durch und für das Personal (Ackermann, 1999a, S. 66 ff.) auch in die Berichte an den Aufsichtsrat aufgenommen werden. Zumindest für die externe Berichterstattung kann man sagen, dass der Bericht von Personalrisiken bis dato nur vereinzelt oder eben gar nicht stattfindet. Das zeigt schon ein Blick in die Geschäftsberichte vieler großer Aktiengesellschaften. Diese Problematik wurde bereits 2013 mit dem Bericht „Personalrisiken als Teil des Risikomanagements“ von Angermüller und Berger angesprochen.  

Erste Projektergebnisse 

Da zum Projektauftakt noch keine belastbaren empirischen Befunde zur Nutzung des Personalrisikomanagements vorlagen, wurden in den letzten Monaten bestehende Studien und Konzepte zu den Personalrisiken zusammengetragen und analysiert (vgl. Wucknitz (2002), Waschbusch und Lesch (2004), Kropp (2004), Drumm (2004/2005)). Im Rahmen einer umfangreichen Recherche über alle relevanten wissenschaftlichen Datenbanken hinweg konnten letztendlich aus 87 Volltexten acht Studien identifiziert werden, die den Voraussetzungen einer Metaanalyse genügten. Aus diesem Fundus wurde eine erste Aufstellung möglicher Nutzenperspektiven des Personalrisikomanagements entwickelt. Zur Strukturierung der empirischen Erkenntnisse wurde hierbei ein theoretischer Ansatz des Schweizer Autors J. M. Kobi von 2012 genutzt, der als Berater im Bereich des Personalmanagements auch über langjährige Praxiserfahrung verfügt. Dieser geht von vier wesentlichen Personalrisikofeldern aus. 

  • Motivationsrisiko: Das Motivationsrisiko beschreibt das Risiko der Reduzierung oder Einstellung von Leistung aus verschiedensten Gründen. Ein Grund dafür kann ein schlechter Führungsstil sein, weitere Gründe wären schlechte Bezahlung und repetitive Arbeit. Dies kann verschiedenste Folgen haben, dazu zählen: Burn-out, geringes Engagement, innerliche Kündigung, Leistungsverminderung/ -einstellung etc. 
  • Anpassungsrisiko: Dieses Risiko bezieht sich auf die fehlende Qualifizierung der Mitarbeiter oder auch darauf, dass einige Mitarbeiter die Ziele des Unternehmens nicht mit tragen wollen. Manche Mitarbeiter wollen nichts Neues lernen, dies kann u. a. auch mit dem Motivationsrisiko zusammenhängen. Präventive Maßnahmen hierfür sind Umschulungen und Neuausbildungen oder auch Weiterbildungen. Gerade im Zuge der Transformationsprozesse ist dieses Risiko zu beachten. 
  • Austrittsrisiko: Hierbei ist vor allem der Austritt von wichtigen Schlüsselpersonen und Leistungsträgern gemeint. Präventive Maßnahmen wären z. B. gefährdete Mitarbeitergruppen oder Schlüsselpersonen im Unternehmen ausfindig zu machen und an das Unternehmen zu binden (Retention Management). Dieses Risiko steht in starker Beziehung zu dem Engpassrisiko. 
  • Engpassrisiko: Bei dem Engpassrisiko geht es um den Fachkräftemangel. Es sind also nicht genügend Mitarbeiter für bestimmte Funktionen oder mit dem nachgefragten Potenzial verfügbar. Was ein generelles Problem für viele Unternehmen im Zuge der Digitalisierung zu sein scheint. Viele Unternehmen versuchen, dies über Fort- und Weiterbildungen oder Um- und Neuausbildungen zu kompensieren (Anpassung). Zur Not werden externe Dienstleister beschäftigt, was häufig im IT-Bereich der Fall ist.

Natürlich wurde im Rahmen der Strukturierung eine ganzheitliche Betrachtung vorgenommen. Es wurden auch andere Konzepte bspw. von Wucknitz (2002), Waschbusch und Lesch (2004) oder Leidig (2007), die an dem grundlegenden Konzept orientiert sind, mit einbezogen. Die Analyse der Studien zeigte allerdings eine klare Tendenz dafür, dass die oben genannten Personalrisikofelder nach Kobi am ehesten in der Praxis bestätigt werden. 

Der Nutzen des Personalrisikomanagements 

Risiken sind im Sinne des Risikomanagements auch immer als Chancen zu sehen. Aus dieser Annahme heraus lassen sich verschiedene Nutzenperspektiven ableiten. Aus strategischer Sicht ist besonders interessant, dass sich die gezielte Erfassung und Steuerung von Personalrisiken positiv auf die ökonomische Ebene (Unternehmenserfolg) auswirken kann. Zusätzlich konnte festgestellt werden, dass auch positive Effekte auf ökologischer Ebene (Nachhaltigkeit) möglich sind. Ein weiterer Aspekt hierbei ist, dass durch die Vermeidung von Personalrisiken gleichzeitig eine positive Reputation entstehen kann – Stichwort CSR (Soziale Verantwortung). Folgendes Beispiel von Kobi soll den Nutzen vor allem aus monetärer Sicht verdeutlichen. 

Tabelle: Die monetäre Bedeutung von Personalrisiken

Untenstehende Abbildung umfasst das Ausmaß des Nutzens aus der Vermeidung der Personalrisiken der vier genannten Personalrisikofelder. Die identifizierten Chancen der Vermeidung aus den acht Studien wurden hierzu anhand ihrer Indikatoren den einzelnen Personalrisikofeldern zugeordnet. Am häufigsten wurde hierbei das Motivationsrisiko genannt, also die Leistung der Mitarbeitenden. Anpassungs- und Austrittsrisiko betreffen eher die strategischen Aspekte einer Transformation. Ein gutes Beispiel für die zu geringe Beachtung des Personalrisikos bei strategischen Vorhaben ist die missglückte Fusion von Daimler und Chrysler. Das Engpassrisiko betrifft die Rekrutierung und Bindung der Belegschaft. Natürlich überschneiden sich die Bereiche teilweise. Wenn die Mitarbeitenden nicht motiviert sind, werden sie sich wahrscheinlich auch nicht der neuen Strategie anpassen, was letztendlich zum Scheitern führen kann, wie viele Praxisbeispiele bereits gezeigt haben. Die Nutzenperspektiven wurden abgeleitet durch die Personalrisikofelder von Kobi (theoretische Grundlage) und mittels der empirischen Befunde (Studien und deren Indikatoren) quantifiziert. Zusätzlich wurden statistische Analysen durchgeführt, um die Stärke des Effektes der Vermeidung der Risiken in den vier Risikofeldern zu verdeutlichen. 

Grafik: Nutzen der Vermeidung für verschiedene Risikofelder nach J. M. Kobi

Die Grafik zeigt deutlich, dass mit dem Motivationsrisiko der höchste negative Effekt einhergeht. Daher sollte vor allem in diesem Bereich das Personalrisiko vermieden werden. Die personalpolitischen Handlungsfelder sind demnach verstärkt auf die Vermeidung dieses Risikos auszurichten. Denkbare Handlungsoptionen liegen im Bereich der Sinnstiftung, persönlichen Weiterentwicklung, Partizipation und Beteiligung der Mitarbeiter, um so strategisch und langfristig einen Mehrwert für das Unternehmen zu schaffen. 

Dieses Beispiel zeigt auch, dass es nicht nur aus ökonomischer Sichtweise notwendig ist, Personalrisiken zu vermeiden, denn: 

Die Zukunft des Personals ist die Zukunft der Organisation

Treier, 2019, S. 37

Die vier E‘s (Grundprinzipien): Employability, Empowerment, Empathie und Entrepreneurship sind im Rahmen des Wertewandels und einer werteorientierten Personalführung hervorzuheben. (Treier, 2019, S. 37)

  • Employability: optimierter Einsatz der Mitarbeiter im Arbeitsalltag (Qualifikation, Kompetenz, Gesundheit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit)
  • Empowerment: Ermöglichung durch Fördern und Fordern der Mitarbeiter (Eigenverantwortung, betriebliche Sicht der Ressourcenorientierung)
  • Empathie: Vertrauen und Unterstützung als Sozialkapital (betriebliche Sicht der Sozialkompetenzen und individuelles Einfühlungsvermögen)
  • Entrepreneurship: verantwortungsvolles Handeln (unternehmerisch denken und handeln aus betrieblicher Sicht, Bereitschaft zum Risiko aus individueller Sicht)

Kurzes Résumé

Möglicherweise würde eine entsprechende Nutzenargumentation heute etwas anders aussehen. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels und der ständigen Veränderung – auch im Sinne der VUCA-Welt (VOLATILITY, UNCERTAINTY, COMPLEXITY und AMBIGUITY), ist es wahrscheinlich, dass das Engpassrisiko als Feld des Risikomanagements mittlerweile einen höheren Stellenwert hat als in der Vergangenheit. Dies wird auch im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung immer relevanter, da es hier an Fachkräften fehlt. Zusätzlich befinden sich aktuell viele Branchen im Wandel und stehen ständigen Transfomationsprozessen und somit der Herausforderung eines immer agiler werdenden Umfelds gegenüber. Die Folge ist eine erhöhte Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft der Führungskräfte und Mitarbeiter, was wieder zum Thema Personalrisiken und Personalrisikomanagement führt. Im Rahmen des Projekts wird die bestehende wissenschaftliche Perspektive auf Personalrisiken praktisch ergänzt und aktualisiert.   

Nächste Schritte. Hält die Theorie der Praxis stand?

Zur Überprüfung und Ergänzung der wissenschaftlichen Perspektive werden in den nächsten Monaten Interviews und Befragungen von Arbeitnehmervertretern/innen im Aufsichtsrat durchgeführt. Ziel ist es, ein zeitgemäßes und praxisgerechtes Risikomanagementkonzept zu entwickeln sowie im Anschluss daran, dieses mit einer breiter angelegten schriftlichen Befragung auf seine Praxistauglichkeit zu überprüfen. Als Ergebnis werden Arbeitshilfen erstellt sowie Vergleichsdaten zu den typischen Personalrisiken und deren Bedeutung bereitgestellt. Diese sollen den Aufsichtsräten eine fundierte und datenbasierte Diskussion der Personalrisiken ermöglichen und ihnen in diesem bis dato deutlich unterbelichteten Feld einen Wissensvorsprung ggf. auch gegenüber dem eigenen Personalressort verschaffen. Nur so kann es in Zukunft gelingen, aus dem Aufsichtsrat heraus Einfluss auf eine beschäftigungspolitisch sinnvolle Unternehmensstrategie zu nehmen.

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