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LABOR.A 2022

Wie gestalten wir die sogenannte „künstliche Intelligenz“?

Im Zentrum des Diskurses „Der mitbestimmte Algorithmus“ stehen Impulse von Betriebs- und Personalräten. Ihre Vorschläge für die Gestaltung von algorithmischen Steuerungs- und Entscheidungssystemen wurden bei der LABOR.A 2022 diskutiert.

Auf der LABOR.A 2022 stellte das gewerkschaftliche Personennetzwerk „Forum Soziale Technikgestaltung“ (FST) neue Ergebnisse der Anpassung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme zur Diskussion. Rahmen dafür war die Session „Wer gestaltet KI? Algorithmische Steuerung von Arbeit als Thema gesetzlicher, betriebsverfassungsrechtlicher aber auch privatwirtschaftlicher Regulierung“ sowie zwei weitere Impulse:

  • Michael Bretschneider-Hagemes präsentierte Regulierungsinitiativen auf europäischer Ebene wie den KI-Act – warnendes Beispiel, dass algorithmische Systeme zukünftig über Zertifizierungssysteme und gesetzliche Regeln einer scheinbaren Kontrolle unterliegen.
  • Semih Yalcin stellte die aktuelle Praxis algorithmischer Steuerung von Arbeit bei Lieferdiensten vor – Beispiel dafür, dass nicht alle Unternehmen sich mit nachgeholter Digitalisierung aufhalten, sondern direkt voll einsteigen, ohne wirksame Beteiligung und Information über die Mitbestimmung. Humane und anforderungsgerechte Systeme sind in beiden Welten nur schwer sicherzustellen.

Das FST geht von der Prämisse aus: Die Einführung algorithmischer Steuerung von Arbeit bedarf einer unmittelbaren und proaktiven Einflussnahme der Kolleginnen und Kollegen auf Grundlage konkreter betrieblicher Anforderungen (zum Mitschnitt der Session in der Mediathek der LABOR.A). Seit mehr als 30 Jahren befasst sich das Forum mit der Digitalisierung der Arbeitswelt. Auf der Basis konstruktiver Technikgestaltung vernetzten sich bisher 4.700 Frauen und Männer aus Betriebs- und Personalräten sowie Belegschaften, um die Arbeitswelt mithilfe angepasster digitaler Lösungen schrittweise humaner zu gestalten. Dabei verfolgt das FST keine technikzentrierte Herangehensweise, sondern betont das Erfahrungswissen der Kolleginnen und Kollegen: Es soll gleichberechtigt mit dem digitalen Sachwissen gehandhabt werden. Das Prozesswissen der Belegschaft muss in die algorithmischen Systeme eingehen.

Der mitbestimmte Algorithmus

Bereits 6 Jahre führt das FST den Diskurs „Der mitbestimmte Algorithmus“. Die Ergebnisse werden derzeit zusammengestellt und aktualisiert in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt PROTIS-BIT (= PROaktive Transferierbare InnovationsStrategien von Betriebsräten zur Beschäftigungssicherung auf der Basis „Intelligenter“ Technologien). Im Zentrum stehen dabei die Impulse der Kolleginnen und Kollegen aus den Beschäftigtenvertretungen. Der Denkansatz des mitbestimmten Algorithmus beruht auf wesentlichen Erweiterungen des betriebsrätlichen Mitbestimmungsdenkens.

Es gilt, dem engen technikzentrierten Ansatz der künstlichen Intelligenz eine erweiternde Perspektive zu geben. KI hat mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Verständnis von Intelligenz wenig zu tun. Dahinter verbergen sich hochinnovative mathematische und mathematisierende Werkzeuge, genauer: algorithmische Steuerungs- und Entscheidungssysteme. Diese Innovationen sind brillant und notwendig – doch sie denken nicht, sie lernen nicht, sie haben kein Ich. In den meisten Fällen handelt es sich (noch) um nüchterne Assistenzsysteme, die gemäß den Anforderungen der Kolleginnen und Kollegen anzupassen sind.

Assistenz- und Delegationstechnik

Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Erweiterung des Vorgehens: Die Einführung algorithmischer Steuerungs- und Entscheidungssysteme stellt keine einfache Fortsetzung bisheriger Digitalisierungsstrategien dar. Das FST plädiert für eine Neubetrachtung der Digitalisierung. Die Digitalisierungsentwicklung sollte nicht allein anhand der Technik-Updates differenziert werden (1.0, 2.0, 3.0, 4.0, 5.0), sondern auch anhand der Unterscheidung in Assistenztechnik (z. B. Systeme für vorausschauende Wartung) und Delegationstechnik (z. B. Auftragsabwicklung und Geschäftsprozesssteuerung). Assistenztechnik bedeutet: Der Mensch entscheidet. Delegationstechnik hingegen trifft selbst Entscheidungen. Die zentrale Herausforderung der Zukunft wird darin liegen, Delegationstechnik als sich selbst verändernde Software-Systeme zu gestalten, z. B. die Auftragsverteilung zwischen verschiedenen Produktionsstandorten.

Als Erweiterung schlägt das FST im Projekt PROTIS-BIT vor, eine neue Gestaltungsebene in den Mitbestimmungsprozess einzufügen. Neben der Verankerung sozialer Standards in Betriebs- und Dienstvereinbarungen durch die Beschäftigtenvertretungen sollten die Anforderungen des arbeitsweltlichen Erfahrungswissens der Kolleginnen und Kollegen (z. B. Arbeitsorganisation, Arbeitsschutz) auch softwaretechnisch in die algorithmischen Systeme eingefügt werden. Als Format sind „moderierte Spezifikationsdialoge“ vorgesehen. Dafür diskutiert das Projekt PROTIS-BIT 40 grundlegende Gestaltungskriterien. In virtuellen Workshops haben Betriebs- und Personalräte sowie innovative Köpfe aus IT-Teams die Potenziale des Ansatzes „Der mitbestimmte Algorithmus“ beraten.

Einladung zur Mitwirkung

Kolleginnen und Kollegen aus Betriebs- und Personalräten sowie aus Belegschaften wurden im Rahmen der LABOR.A-2022-Session eingeladen, am virtuellen Diskurs des Projekts PROTIS-BIT mitzuwirken. 3 Inputs der virtuellen Workshops sind online zugänglich:

Wer am FST-Diskurs mitwirken möchte, meldet sich bei Welf Schröter, Leiter des FST.

Weiterführende Informationen

  • Blog „Zukunft der Arbeit“ des Forum Soziale Technikgestaltung
  • Schröter, Welf (2017): Selbstbestimmung zwischen „nachholender Digitalisierung“ und „autonomen Software-Systemen“. Wenn Betriebsräte „vorausschauende Arbeitsgestaltung“ erproben. In: Schröter, Welf (Hg.): Autonomie des Menschen – Autonomie der Systeme. Humanisierungspotenziale und Grenzen moderner Technologien. Mössingen: Talheimer Verlag, S. 187–256.
  • Schröter, Welf (2018): Plädoyer für einen Perspektivwechsel im gewerkschaftlichen Gestaltungsdiskurs. In: WSI-Mitteilungen 3/2018, S. 247–248.
  • Schröter, Welf (2019b): Der mitbestimmte Algorithmus. Arbeitsweltliche Kriterien zur sozialen Gestaltung von Algorithmen und algorithmischen Entscheidungssystemen. In: Schröter , Welf (Hg.): Der mitbestimmte Algorithmus. Gestaltungskompetenz für den Wandel der Arbeit. Mössingen: Talheimer Verlag, S. 101–150.
  • Schröter, Welf (2022): „Der mitbestimmte Algorithmus“ – Ein erweiternder Ansatz zur Gestaltung der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“. Beitrag für das Online-Magazin „DENK-doch-MAL“. 

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