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Zahlen und Fakten zur Mitbestimmung

Erosion als Herausforderung für die Unternehmens­mitbestimmung

Mitbestimmung ist weithin anerkannt, aber die Flucht aus der Unternehmensmitbestimmung wächst (ausländische Rechtsformen, Einfrieren bei der SE, Drittelbeteiligungslücke etc.). Mitbestimmung hat eine Zukunft, wenn der Gesetzgeber die Löcher schließt. Außerdem ist die Machtbalance der Corporate Governance in Gefahr, denn Finanzinvestoren gewinnen an Macht. Mitbestimmungsvermeidung und -ignorierung müssen gestoppt werden.

Zukunft oder Erosion der Mitbestimmung?1

Die Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat wird vielfach als zentraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft geschätzt. Dennoch hat das Ausmaß der Mitbestimmungsvermeidung seit den 2000er Jahren dramatisch zugenommen. Das gilt sowohl für die Zahl der mitbestimmungsvermeidenden und ­ignorierenden Unternehmen (mind. 307 im Bereich der paritätischen Mitbestimmung) als auch für die Anzahl der dadurch von der Mitbestimmung ausgeschlossenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (mind. zwei Mio.). Man kann nicht mehr nur von bloßen Inkonsistenzen im System sprechen. Es findet eine schleichende Erosion der Mitbestimmung statt. Die Vorgaben für die Mitbestimmung in den nationalen Gesetzen wurden formal nicht abgeschwächt. Aber durch europäisches Recht sind neue Schlupflöcher entstanden. Hatten 2002 noch 767 Unternehmen einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat, so waren es 2018 nur noch 638 – darunter mehr als 20 KGaA mit reduzierter Mitbestimmung und 21 Europäische Aktiengesellschaften (SE). Demgegenüber fehlt bei jedem dritten Unternehmen2 mit mehr als 2000 inländischen Beschäftigten der mitbestimmte Aufsichtsrat. Die Schwelle von 2000 inländischen Beschäftigten für die Parität wird nicht beachtet. Noch gravierender ist der Befund zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE): Nur jede fünfte SE mit entsprechender Arbeitnehmerzahl verfügt über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat.

Diese Anwendungslücken schwächen das Gesamtsystem. Sie werfen Fragen der Gleichbehandlung und der Wettbewerbsverzerrung für Unternehmen und Arbeitnehmer auf. An dieser negativen Grundtendenz dürfte auch eine kleine jüngere „Zwischenkonjunktur“ bis 2019 bei den Neuzugängen in die paritätische Mitbestimmung auf 652 Unternehmen nichts ändern (vgl. dieser Beitrag).3

Paritätisch mitbestimmte Unternehmen seit 1994

Mitbestimmungsvermeidung und Mitbestimmungsignorierung

Fehlende paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat hat ihre Ursachen entweder in formal legaler Mitbestimmungsvermeidung durch verschiedene findige Rechtskonstruktionen (194 Fälle) oder in rechtswidriger Mitbestimmungsignorierung aufgrund illegaler Nichtanwendung des Mitbestimmungsgesetzes, obwohl die Voraussetzungen vorliegen (113 Fälle; Sick 20154).

Auf diese Weise entstehen Kapitalgesellschaften, in denen z.B.

  • keine unternehmerische Mitbestimmung existiert,
  • lediglich ein schwächeres Mitbestimmungsregime als die an sich erforderliche Parität besteht (z.B. Drittelbeteiligung) oder
  • eine paritätische Mitbestimmung besteht, diese aber nicht auf der relevanten Konzernebene angesiedelt ist.

Mitbestimmungsvermeidung und Mitbestimmungsignorierung stehen in engem Zusammenhang. Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die gesetzlich geforderte Soll-­Mitbestimmung einfordern, können Unternehmen sich dieser leicht durch Vermeidungsmodelle entziehen. Je mehr legale Vermeidungsmöglichkeiten existieren, desto größer ist der Anreiz, bestehende Mitbestimmungspflichten einfach zu ignorieren. Das ist – neben zu schwachen Sanktionen – ein wesentlicher Grund, weshalb das Gesetz in einigen Fällen nicht angewendet wird.

Sorgen um die Zukunft bereitet aber vor allem die fortschreitende Flucht VOR einer neu einzuführenden Mitbestimmung. Unternehmen, die noch nicht der Mitbestimmung unterliegen, vermeiden diese durch rechtliche Konstruktionen. Häufig fürchten sie um ihre Autonomie – anders als Unternehmen, die bereits mitbestimmungserfahren sind. Mitbestimmung kann nicht „nachwachsen“. So entsteht eine junge Generation von wachsenden Unternehmen, die aus dem System Mitbestimmung herausfallen.

Mitbestimmungsreduzierung

Darüber hinaus entwickelt sich das Phänomen der Mitbestimmungsreduzierung zu einer Gefahr für den Arbeitnehmereinfluss. Die paritätische Aufsichtsratsbesetzung bleibt zwar erhalten, der Aufsichtsrat verliert aber dennoch an Einfluss. Die problematischen Tendenzen sind zusammengefasst:

  • In einer KGaA ist das Mitbestimmungsgesetz zwar grundsätzlich anwendbar, der paritätische Aufsichtsrat hat aber nur sehr rudimentäre Rechte (24 Fälle mit knapp 400.000 Arbeitnehmern).
  • Bei europäischen Verhandlungsmodellen wie bei der SE und der grenzüberschreitenden Verschmelzung, ist selbst dann, wenn die Parität erhalten bleibt, die Mitbestimmung im Aufsichtsrat rechtlich schwächer (z.B. Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden zählt automatisch; kein besonderes Verfahren zur Vorstandsbestellung; häufig Aufsichtsratsverkleinerung; teilweise ohne Gewerkschaftsvertreter).
  • Zugleich droht das Corporate Governance­-System aus dem Gleichgewicht zu geraten. Aufgrund der Aufwertung der Rechte von Investoren und Hauptversammlung wird der mitbestimmte Aufsichtsrat geschwächt und ist immer stärkerer Einflussnahme ausgesetzt (vgl. Sick 2017).
  • Seit den 2000er Jahren nimmt der Anteil mitbestimmter GmbH an allen mitbestimmten Unternehmen zu, wogegen der der mitbestimmten AG abnimmt. In einer GmbH ist die Position des Aufsichtsrats schwächer als in der AG.
  • Das sogenannte Company Engineering führt zum Verlust an Einfluss der Beschäftigten und Gewerkschaften, wenn z.B. eine neue Holding ohne Arbeitnehmerbeteiligung im Ausland angesiedelt wird (z.B. das Unternehmen Linde PLC in Irland nach Fusion von Linde und Praxair).
Übersicht über Vermeidungsgestaltungen
Vermeidungsstrategien

Lücken durch Europäisches Recht

Mitbestimmungsvermeidung ist zwar kein neues Phänomen. Seit jeher bestehen national Inkonsistenzen in der historisch gewachsenen Mitbestimmungsgesetzgebung. Ein Hauptgrund für die stetige Zunahme der Vermeidungsfälle seit 2002 liegt jedoch in den neu geschaffenen Gestaltungsoptionen im europäischen Recht (Sick 2012; Sick 2018 Rnr. 3, 51). Für die Zukunftsfähigkeit des Mitbestimmungssystems sind diese besonders kritisch. Mit 150 der 194 Vermeidungsfälle im Bereich der paritätischen Mitbestimmung bilden sie den Schwerpunkt:

  • So ermöglicht die EuGH­-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit, dass Unternehmen im Inland in ausländischen Rechtsformen firmieren und deshalb nicht von der Mitbestimmung erfasst sind. Mitte 2014 gab es schon fast 100 Unternehmen mit jeweils mehr als 500 Inlandsbeschäftigten, die eine ausländische Rechtsform nutzten (Sick 2015; Sick 2011). Aktuell sind es 62 mit jeweils mehr als 2000 Arbeitnehmern.
  • Außerdem führt die europäische Rechtsetzung zu SE und grenzüberschreitender Verschmelzung zu einem lückenhaften Modell verhandelter Mitbestimmung. Lediglich der Status Quo der Mitbestimmung wird im Verhandlungszeitpunkt gesichert. Ein späteres Anwachsen von Arbeitnehmerzahlen findet keine Berücksichtigung, weshalb das „Einfrieren“ ohne Mitbestimmung oder das Verharren auf geringem Niveau möglich ist. Das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen wird so verhindert. 82 SE mit mehr als 2000 Beschäftigten haben daher keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. Allein seit 2015 sind 28 Fälle hinzugekommen. Die SE ist deshalb ein Kernproblem für die Partizipation im Aufsichtsrat.

Zusätzlich schwebt ein neues Damoklesschwert über der Mitbestimmung: Nach dem 2019 verabschiedeten EU­-Company Law Package können Mitbestimmungsrechte im Falle der Verlegung des Firmensitzes in einen anderen Mitgliedstaat nur noch vier Jahre lang geschützt bleiben (vgl. Kluge 2019).

Schlussfolgerung für die Zukunft der Mitbestimmung

Unternehmen haben viele Möglichkeiten, um die Gründung eines mitbestimmten Aufsichtsrats zu verhindern – zu viele. Eine ausländische Rechtsform, das Einfrieren eines Zustands mit geringer oder keiner Mitbestimmung bei Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft oder Lücken in der Drittelbeteiligung sind Wege. Das Mitbestimmungsrecht ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Diese Löcher muss der Gesetzgeber dringend schließen. Sonst droht die nicht umkehrbare Erosion der Mitbestimmung.

Angesichts dieses dramatischen Befundes gilt es, das Mitbestimmungssystem national zu schützen und in Europa für generelle Mindeststandards einzutreten.

Es ergeben sich folgende Kernforderungen:

  • Die Mitbestimmung ist europarechtlich zulässig auf ausländische Rechtsformen zu erstrecken (Mitbestimmungserstreckungsgesetz).
  • Bei europäischen Verhandlungsmodellen wie der SE muss der Gesetzgeber gewährleisten, dass das „Einfrieren“ eines Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung verhindert wird.
  • Die Drittelbeteiligungslücke ist zu schließen, indem wie im Mitbestimmungsgesetz Inlandsbeschäftigte konzernweit gezählt werden.
  • Die Kapitalgesellschaft & Co. KG sollte in § 4 MitbestG lückenlos erfasst und im Drittelbeteiligungsgesetz neu aufgenommen werden.
  • Es bedarf eines effektiven Sanktionsregimes für die Fälle, in denen die Mitbestimmungsgesetze rechtswidrig nicht angewandt werden.
  • In Europa sollte eine Rahmenrichtlinie mit generellen Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation geschaffen werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen muss als Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden.


Wenn der Wert der Mitbestimmung auch in Zukunft für eine sozialpartnerschaftliche Interessenwahrnehmung erhalten bleiben soll, muss man sie schützen und ihre konsistente Anwendung gewährleisten. Sonst wird eine schleichende Erosion der Mitbestimmung unaufhaltbar.

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1 Der Artikel verwendet Daten einer Untersuchung zur Vermeidung paritätischer Mitbestimmung von Bayer/ Hoffmann (2020).
2 Außerhalb des Tendenzschutzbereichs.
3 Diese könnte sich aus den erweiterten Anrechnungsvor­schriften von Leiharbeitnehmern (nach AÜG), den vom Einzelaktionär Erzberger betriebenen Statusverfahren (über 50), der internen Überprüfung und Änderung der Mitbestimmungsverhältnisse in Folge der Frauenquotengesetzgebung sowie eines konjunkturell bedingten Beschäftigtenzuwachs ergeben.
4 Im Bereich der Drittelbeteiligung sogar jedes zweite Unternehmen.
 
Literatur
Bayer, Walter / Hoffmann, Thomas (2020): Vermeidung und Hans­-Böckler­-Stiftung, Februar 2020 (unveröffentlicht).
Bayer, Walter / Hoffmann, Thomas (2015): Gesetzeswidrige Mitbestimmungslücken bei der GmbH; GmbHRundschau 17; S. 909–918.
Bayer, Walter (2015): Die Erosion der deutschen Mitbestimmung, NJW, S. 1930ff.
Hoffmann, Thomas (2016): 40 Jahre Mitbestimmungsgesetz, AG-Report, S. R167. ff. Kluge, Norbert (2019): Die deutsche Mitbestimmung wird in der EU unzureichend geschützt, in: Magazin Mitbestimmung 2/2019, [09.03.2020].
Köstler, Roland / Pütz, Lasse: SE Datenblatt 2019
Sick, Sebastian (2018): SE und grenzüberschreitender Verschmelzung, in Düwell, Franz Josef (Hrsg.) Kommentar Betriebsverfassungsgesetz.
Sick, Sebastian (2017): Gefahr für die Balance: Say on Pay nach der Aktionärsrechterichtlinie­ aus Sicht der Arbeitnehmer“ in: Audit Committee Quaterly III/2017, [09.03.2020]
Sick, Sebastian (2015): Mitbestimmungsfeindlicheres Klima, Mitbestimmungsreport Nr. 13. Hans­-Böckler-­Stiftung, [09.03.2020].
Sick, Sebastian (2012): Unternehmensmitbestimmung in Europa – Schutz erworbener Rechte im Wettbewerb der Rechtsordnungen, S. 361–382 in: Schubert, Jens (Hrsg.), Festschrift für Otto Ernst Kempen, Baden-­Baden 2013.
Sick, Sebastian (2011): Unternehmensmitbestimmung für ausländische Rechtsformen – Inkonsistenzen beheben, GmbhRundschau, S. 1196ff.