Sozialpartnerschaftliche Lernreise
Zukunftsprodukte partizipativ erschließen
Ein mittelständischer Automobilzulieferer in Ulm steht angesichts des Antriebswechsels vor der Herausforderung, neue Geschäftsfelder zu erschließen, um zukunftsfähig zu bleiben. Mithilfe einer Lernreise werden neue Innovationspfade beschritten.
Die Transformation mit ihren vielfältigen neuen Anforderungen wirkt auch auf die Unternehmen des industriellen Mittelstands ein und verändert die Bedingungen für ihre Geschäftstätigkeit teils grundlegend. Das trifft insbesondere auf Automobilzulieferer zu, die sich auf Zulieferungen für den Antriebsstrang mit Verbrennungsmotor spezialisiert haben. Deren Produkte werden aufgrund der Transformation in Richtung E-Mobilität und wasserstoffbasierter Antriebe absehbar keine Abnehmer mehr finden. Die meisten von ihnen – insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) – haben ihr Leistungsportfolio über die Jahre höchst effizient an die Anforderungen ihrer Auftraggeber angepasst und ihre technologische Ausstattung, die Arbeitsorganisation bis hin zur Preisgestaltung darauf ausgerichtet. Ihre Innovationsstrategien waren im Wesentlichen Optimierungsstrategien. Die Frage, was passiert, wenn die bisher für die Auftraggeber hergestellten Produkte auf keinen Bedarf mehr stoßen, kann viele Zulieferunternehmen deshalb vor eine existenzielle Herausforderung stellen.
Der Betriebsrat und die Beschäftigten eines mittelständischen Komponentenherstellers in Ulm, dessen Produkte nahezu vollständig für den Verbrenner-Antriebsstrang verwendet werden, schauen bereits seit einigen Jahren sorgenvoll in die Zukunft. Das Unternehmen zählt als Spezialzulieferer von Drehteilen für Automatikgetriebe zu den „hidden champions“ in der Region und bewegte sich lange Zeit in einem stabilen Wachstumsumfeld. Mit seinem modernen Maschinenpark bedient es weltweit einen breiten Kundenstamm in der Automobilindustrie. Die Belegschaft besteht überwiegend aus hochkompetenten Facharbeiter*innen, von denen viele im Unternehmen gelernt haben.
Deshalb traf das seit 2020 absehbare und für die EU Anfang 2023 beschlossene Aus für den Verbrennerantrieb ab 2035 (mit Ausnahme für eine kleine Nische von Fahrzeugen, die mit eFuels, also klimaneutralen Kraftstoffen, betrieben werden) das Unternehmen tief ins Mark, sprich: in seinem Kerngeschäft. Denn Elektrofahrzeuge kommen ohne komplexe Automatikgetriebe aus.
Bis dahin zeigte die Geschäftsführung noch wenig Initiative, systematisch neue, verbrennerunabhängige Geschäftsfelder zu erschließen und langfristige Zukunftsperspektiven für Unternehmen und Beschäftige zu entwickeln. Stattdessen wurde der Ausbildungsbetrieb eingestellt, der immer eine wichtige identitätsstiftende Funktion für die Belegschaft hatte. „Wir haben die Geschäftsführung immer wieder aufgefordert, mehr in die Zukunft des Unternehmens zu investieren“, sagt der Betriebsratsvorsitzende. „Aber da kam aus unserer Sicht zu wenig. Und so wurden wir selbst aktiv.“
Betriebsrat handelt in Eigeninitiative
Ende 2022 erfuhr der Betriebsrat auf einer Veranstaltung der IG Metall Ulm von einem „Zukunfts-Check“, den das Team Transformation der IG Metall im Bezirk Baden-Württemberg entwickelt hatte. Mit diesem Instrument können Betriebsräte in einem Workshop mit Expert*innen des Teams Transformation erkunden, inwieweit ein Unternehmen auf die künftigen technologischen und organisatorischen Entwicklungen in seiner Branche vorbereitet ist. Die örtliche IG Metall-Geschäftsstelle Ulm vermittelte den Kontakt zum Team Transformation, und schon bald konnte mit dem Betriebsrat des Komponentenherstellers ein solcher „Zukunfts-Check“ durchgeführt werden. „Wir versprachen uns davon eine klare Einschätzung zu den Zukunftsaussichten unseres Unternehmens, um die Geschäftsführung damit zu konfrontieren und gemeinsam ins Handeln zu kommen“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende weiter.
So kam es dann auch: „Unser Chef und die designierte Nachfolge ließen sich auf Grundlage der Ergebnisse aus dem ‚Zukunfts-Check‘ davon überzeugen, die Erschließung neuer Geschäftsfelder systematisch und mit Unterstützung durch wissenschaftliche Partner in einem zeitlich befristeten Projekt anzugehen“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende. Auf einer Betriebsversammlung im Frühjahr 2023 stellten die IG Metall und der Betriebsrat auch der Belegschaft die Ergebnisse aus dem „Zukunfts-Check“ vor, sprachen deutlich die notwendigen Handlungsbedarfe an und informierten darüber, dass sie die Entwicklung einer nachhaltigen Zukunftsstrategie in einem gemeinsamen Prozess mit der Geschäftsführung und unter Beteiligung der Belegschaft vorantreiben wollten. Die Initiative stieß auf breite Zustimmung in der Belegschaft.
Das im Rahmen der Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführte Projekt „Transformation im Mittelstand. Eine sozialpartnerschaftliche Lernreise in der Automobilzuliefererindustrie“ verfolgte im Wesentlichen zwei Ziele.
Zum einen ging es IG Metall und Betriebsrat darum, in einem gemeinsamen Prozess, zusammen mit Beschäftigten, der Geschäftsführung und mit wissenschaftlicher Unterstützung, systematisch neue, verbrennerunabhängige Zukunftsperspektiven für das Unternehmen zu entwickeln und zu realisieren. Dabei sollten zuallererst konkrete Produkte für die eigene Fertigung in neuen Geschäftsfeldern identifiziert werde. Auch war angestrebt, zu potenziellen Auftraggebern Kontakt aufzunehmen, deren Anforderungen kennenzulernen und Erkenntnisse darüber zu sammeln, wie der Vertrieb, der Maschinenpark, die Arbeitsprozesse und die Kompetenzen der Belegschaft für die Erschließung von Zukunftsprodukten weiterentwickelt werden müssten.
Zum anderen zielte das Projekt darauf, ein Vorgehensmodell für die sozialpartnerschaftliche Gestaltung solcher Transformationsprozesse in klein- und mittelständischen Betrieben zu entwickeln und zu erproben. Denn bislang gibt es kaum geeignete Methoden und Beispiele einer guten Praxis, an denen sich Mitbestimmungsakteur*innen im industriellen Mittelstand orientieren können, um eine nachhaltige Transformation in KMU sozialpartnerschaftlich und unter Beteiligung der Beschäftigten voranzutreiben. Das Konzept einer „sozialpartnerschaftlichen Lernreise Zukunftsprodukte“, das für das Projekt im Referenzunternehmen entwickelt wurde, sollte ferner auf seine Praxistauglichkeit geprüft und aufbauend auf den im Zuge der Umsetzung und in Workshops gewonnenen Erfahrungen („Lessons Learned“) weiterentwickelt werden.
In technologischen Fragen wurde das Projekt vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) wissenschaftlich beraten. Hinsichtlich der praktischen Erprobung, Weiterentwicklung und Evaluation des Vorgehensmodells wurde es vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München (ISF) wissenschaftlich begleitet. Das Institut dokumentierte darüber hinaus die Ergebnisse und bereitete diese auf, um den Transfer in andere Bereiche zu ermöglichen.
Das Team Transformation der IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg unterstützte das Projekt mit dem zuständigen Gewerkschaftssekretär und beriet es beim Design des Vorgehensmodells, der Zusammenstellung der Projektpartner*innen, der betrieblichen Aufgleisung des Projektteams und der Moderation der einzelnen Workshops.
Vernetztes Wissen aktivieren
In den vorbereitenden Gesprächen zwischen Betriebsrat, Arbeitgeberseite, IG Metall und den beteiligten Wissenschaftler*innen entstand die Idee einer gemeinsamen „sozialpartnerschaftlichen Lernreise Zukunftsprodukte“ als Modell, nach dem im Projekt methodisch vorgegangen werden sollte. Auf dieser „Reise“ sollten als zwei neue, potenzielle Geschäftsfelder die Bereiche E-Mobilität und Wasserstoffwirtschaft/Brennstoffzelle in den Fokus genommen werden. Angedacht war ferner, Überblicksanalysen über Marktchancen und Möglichkeiten für das Referenzunternehmen in diesen neuen Geschäftsfeldern zu erstellen und praktische Erkundungen zu unternehmen – etwa im Wege von Betriebsbesichtigungen und Praxis-Workshops bei Unternehmen, die in diesen Feldern bereits aktiv sind. Denn gerade für KMU mit ihren geringen Ressourcen und Investitionsspielräumen geht es darum, nicht erst lange in Analysen zu verweilen, sondern gleich von Anfang an ins Handeln („Doing“) zu kommen.
Die Lernreise sollte zudem ergebnisoffen angelegt sein – und zwar in der Weise, dass das „Reiseteam“ fortwährend im Rahmen von Zwischenevaluationen auswertet, wie die Reise verläuft und darüber entscheidet, ob es den eingeschlagenen Weg fortsetzen möchte oder Alternativen im Arbeitsprogramm erwägen sollte. Zu diesem Team zählten Mitglieder der Geschäftsführung, des Betriebsrats, und engagierte Beschäftigte, die hinzugezogenen Wissenschaftler*innen und der Betriebsbetreuer der IG Metall aus der Geschäftsstelle Ulm wie auch der Transformationssekretär aus dem zuständigen IG Metall-Bezirk.
Wir haben das Vorgehen im Projekt ‚sozialpartnerschaftliche Lernreise‘ genannt, weil wir uns gemeinsam, vorurteilsfrei und ergebnisoffen an neue technologische Entwicklungen herantasten wollten, um zukunftsorientierte Geschäftsfelder und neue Produktlinien für den Komponentenhersteller ausfindig machen zu können“, berichtet Projektleiter Alexander Ziegler, Sozialwissenschaftler beim ISF. „In dem Wort ‚Reise‘ steckt immer auch ein wenig Abenteuer drin. Statt starr nach Plan zu verfahren, wollten wir Gelegenheiten, die sich im Zuge des Projekts auftun, jederzeit flexibel aufgreifen. Manchmal hat man eine vielversprechende Erkenntnis über einen möglichen Kundenauftrag, da muss man als KMU sofort aktiv werden können. Manchmal erkennt man schnell, dass eine Spur ins Nichts führt, da muss man als KMU dann nicht lange weiter analysieren. Wichtig ist die Bereitschaft, sich ohne Scheuklappen auf etwas Neues einzulassen und alle verfügbaren Mittel für den Erkenntnisgewinn auszuschöpfen. Und auch darum geht es: um eine Lernreise des gesamten Betriebs. Auch die Beschäftigten sollen einbezogen werden: Welche Zukunftsideen haben sie, wie möchten sie in Zukunft in dem Unternehmen arbeiten?“
Durchgeführt wurde die Lernreise vom „Reiseteam“, das heißt: vom gesamten Kompetenzteam, in das Vertreter*innen des Unternehmens, der IG Metall, des Betriebsrats und Beschäftigte sowie die Wissenschaftler*innen vom ZSW und ISF eingebunden waren. Dies gewährleistete nicht nur kurze Entscheidungswege im Projekt, sondern auch ein hohes Maß an Interdisziplinarität und Diversität der Perspektiven und Wissensquellen. Daraus wiederum entwickelten sich agile Vorgehensweisen und kreative gemeinsame Lernprozesse. Wesentlich zum Erfolg der „Lernreise“ trug auch das echte Interesse der Geschäftsführung an dem Projekt bei genauso wie ihr klares Commitment, die Ergebnisse auch umsetzen zu wollen.
So unternahm das Reiseteam gleich zu Beginn seiner Reise eine gemeinsame Werksbesichtigung im Unternehmen des Automobilzulieferers, um dessen Innovationskraft besser einschätzen zu können und die Ergebnisse des „Zukunfts-Checks“ zu vertiefen. Im Mittelpunkt stand dabei der Informationsaustausch mit Mitarbeiter*innen aus der Arbeitsvorbereitung und Fertigung. In den Gesprächen ging es vor allem um drei Fragen: Welche Kernkompetenzen hat das Unternehmen? Wie können diese Kernkompetenzen für die Erschließung neuer Geschäftsfelder eingesetzt und weiterentwickelt werden? Und wie ist die Belegschaft qualifikatorisch darauf vorbereitet, die Integration neuer Geschäftsfelder und Produktlinien zu bewältigen?
Maximilian Locher, Projektberater und Gewerkschaftssekretär im Team Transformation des IG Metall-Bezirks Baden-WürttembergIm Transformationsprozess ist es für die Sicherung der Beschäftigung am Standort wichtig, zu Beginn auf die Kernkompetenzen eines Unternehmens zu fokussieren. Was zeichnet sie aus? Was sind ihre Grenzen, was ihre Potenziale? Wo müssen sie weiterentwickelt werden, auch durch strukturelle Anpassungen? Es ist anspruchsvoll und bedarf vieler Perspektiven, diese Kompetenzen zu benennen und auf zukünftige Anforderungen hin abzuklopfen. Zugleich kann das in Strategieprozessen ungemein helfen und das Selbstbewusstsein der Belegschaft stärken, das es braucht, um sich gemeinsam im Betrieb für die Zukunft aufzustellen.
Diese praktische Erkundung brachte die Gefahr einer zu starken einseitigen Ausrichtung des Unternehmens auf die Verbrennertechnologie deutlich ans Licht. Sichtbar wurden aber auch die Vorzüge des Unternehmens: seine speziellen Kompetenzen in den Bereichen Aluminium-Zerspanung; die Fähigkeit, hohe Stückzahlen bei hoher Qualität zu produzieren und seine Kunden mit einem breiten Spektrum an produktionsnahen Dienstleistungen zufriedenzustellen. Als besonderer Vorteil wurde das durchweg hohe Facharbeiterniveau und der moderne Maschinenpark herausgestellt. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Beschäftigten im Unternehmen hoch motiviert waren, sich auf neue Arbeitsfelder einzulassen.
Gegenstandsorientiertes Arbeiten in Zukunftsfeldern
Dieser internen Analyse folgten verschiedene externe. Als erstes Zukunftsfeld hatte sich das Team die Wasserstoffwirtschaft und Produktion von Brennstoffzellen vorgenommen und einen Workshop in der Forschungsfabrik für Wasserstofftechnologie und Brennstoffzellentechnik (HyFaB) des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung (ZSW) durchgeführt. Ziel war es, die Bedarfe für die Herstellung von Drehteilen in diesem Bereich zu identifizieren. Das ZSW verfügt über besondere Expertise auf dem Gebiet der Brennstoffzellenforschung und langjähriges Erfahrungswissen im Betrieb eines der weltweit größten unabhängigen Brennstoffzellentestfelder in Ulm.
Im Workshop und bei der Besichtigung des Brennstoffzellentestfelds zeigte sich bald, dass es in den Bereichen Wasserstoff und Brennstoffzelle durchaus Potenziale für Präzisionsdrehteile gibt. Der Bedarf besteht aber weniger in der Brennstoffzellenproduktion selbst, dafür umso mehr in der Peripherie von Brennstoffzellen, etwa im Bereich der Ventiltechnik oder bei Kompressoren.
Als Fazit dieses ersten Workshops ließ sich festhalten: Es lohnt sich für das Unternehmen, mit den Herstellern der Peripheriekomponenten von Brennstoffzellensystemen Kontakt aufzunehmen, um deren konkreten Bedarf an Drehteilen und deren Anforderungen an die Herstellung solcher Produkte auszuloten.
Diese Themenstellung wurde wenige Wochen später in einem zweiten Workshop aufgegriffen. Über das Kooperationsnetzwerk des ZSW konnte auf regionaler Ebene ein Akteur aus dem Bereich Wasserstoffwirtschaft für die Durchführung eines gemeinsamen Workshops gewonnen werden. Im gegenseitigen Austausch gelang es dann, die Anforderungen an eine Präzisionsdrehteileproduktion speziell bei Brennstoffzellensystemen zu präzisieren.
In den Workshops sowohl im Themenfeld Wasserstoffwirtschaft als auch E-Mobilität ging es dem Reiseteam vor allem darum, sich im Dialog mit weiteren Fachexpert*innen einen Überblick über vorhandene Marktchancen für den Automobilzulieferer in diesen Zukunftsfeldern zu verschaffen. Organisiert und inhaltlich vorbereitet wurden sie vom ZSW.
Im ersten Schritt sollte eine Potenzialanalyse erarbeitet werden, um einen möglichst genauen Überblick über den Bedarf an Präzisionsdrehteilen in den Zukunftsfeldern Wasserstoffwirtschaft/Brennstoffzelle und E-Mobilität zu gewinnen. Ganz wesentlich trug dazu das gezielte Nachfragen der Mitarbeiter*innen aus der Arbeitsvorbereitung und der Fertigung des Komponentenherstellers bei den Expert*innen bei.
Diese Potenzialanalyse bildete im weiteren Verlauf des Projekts die Grundlage für die Durchführung einer Anforderungsanalyse, die ebenfalls im Rahmen eines Workshops erfolgte. Hierbei stand der Informationsaustausch zwischen dem Reiseteam und Vertreter*innen von Unternehmen, die in den neuen Geschäftsfeldern bereits aktiv sind, im Mittelpunkt. In diesem Dialog konnten die Anforderungen an die Produktion von Präzisionsdrehteilen weiter konkretisiert werden. Dieser zweite Analyseschritt gab dem Referenzunternehmen überdies Gelegenheit, ein direktes Feedback von potenziellen Kunden zu erhalten und über diese Kontakte sein Partnernetzwerk zu erweitern.
Im Rahmen der Zwischenevaluation wurden die Ergebnisse dieser ersten Lernschleife im Reiseteam ausgewertet: Das Team verabredete sich, die Erschließung des Geschäftsfelds mit Präzisionsdrehteilen für die Wasserstoffwirtschaft künftig fortzusetzen und zu intensivieren. Außerdem legte es fest, das bisherige Vorgehen im Projekt auch für das Feld der E-Mobilität anzuwenden, um auch hier für das Unternehmen Potenziale für die Herstellung von Drehteilen zu ermitteln.
Bis zum Projektende wurden zwei weitere Workshops im Themenfeld E-Mobilität durchgeführt, in denen ebenfalls die Analyse von Potenzialen für und von (kundenseitigen) Anforderungen an die Erstellung von Präzisionsdrehteilen im Zentrum stand. Auch hier gibt es vielversprechende Anwendungsfelder etwa im Bereich Thermomanagement wie auch bei Batteriesystemen und Parksperren.
„Es war klar, dass wir in der Projektlaufzeit nicht sofort neue Kunden in den Zukunftsfeldern akquirieren konnten“, sagt Alexander Ziegler, „aber wir sind dem schon sehr nahegekommen. Noch wichtiger ist aber, dass es uns so gelungen ist, das Unternehmen für neue Entwicklungen und mögliche Bedarfe für Drehteile in anderen Anwendungsbereichen und Branchen zu sensibilisieren und sich diesen gegenüber zu öffnen. Auf diesem Weg sind wir ein gutes Stück vorangekommen.“
Beteiligung als Motor der Transformation
Dass das Projekt auf eine gesicherte Zukunft des Referenzunternehmens hoffen lässt, ist nicht zuletzt dem starken Engagement der Beschäftigten zu verdanken. Sie wurden von Anfang an in die Lernreise einbezogen, einige waren sogar dauerhaft Mitglied im Reiseteam (Mitarbeiter*innen aus der Arbeitsvorbereitung und der Fertigung). Man kann daher von einer Lernreise des gesamten Betriebs sprechen.
Generell ist die Kommunikation in dem Unternehmen mit seinen 246 Beschäftigten geprägt von kurzen Wegen. Erst recht der Kontakt zwischen Betriebsrat und Belegschaft ist von örtlicher Nähe und direkter Kommunikation bestimmt.
Die Betriebsversammlung im Frühjahr 2023 war der erste Schritt, um die Belegschaft über die Lage des Unternehmens, seine Stärken und Schwächen auf der Basis des „Zukunfts-Checks“ zu informieren. Ein weiterer wichtiger Hebel, um die Beschäftigten in die Zukunftsdebatten einzubeziehen, waren Betriebsratssprechstunden, die im Projektverlauf durchgeführt wurden. Dabei handelte es sich nicht um individuelle Sprechstunden für einzelne Mitarbeiter*innen. Sie wurden vielmehr in kleinen Gruppen von Beschäftigten und quer durch alle Abteilungen als Workshops, die auf zwei Tage konzentriert wurden, während der Arbeitszeit durchgeführt.
Der Anstoß, Betriebsratssprechstunden zu nutzen, um die gesamte Belegschaft gruppenweise über Zukunftsentwicklungen im Unternehmen zu informieren, kam von der IG Metall Ulm. In diesen als Innovationsworkshops ausgestalteten Sprechstunden des Betriebsrats standen vor allem zwei Fragen im Mittelpunkt:
- Wie gut ist der Betrieb für die Zukunft aufgestellt?
- Was brauchen wir an Veränderungen im Betrieb?
Für die erste Frage wurden einzelne Kriterien aufgestellt, die mithilfe von Klebepunkten in der Skala „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ bewertet werden sollten. Das hierbei gewonnene Bild wurde jeweils dokumentiert.
Frage zwei wurde als offene Frage gestellt und mobilisierte so die Kreativität und Innovationsbereitschaft der Beschäftigten. Ihre Ideen und Wünsche betrafen sowohl die Produktion (größere Durchmesser produzieren können, Maschinenpark weiter modernisieren, Kontakt zwischen den Abteilungen und unter den Mitarbeiter*innen intensivieren) bis hin zur Organisation des Unternehmens (Marketing verbessern, regionales Netzwerk zu potenziellen Kunden aufbauen, mehr auf Messen präsent sein).
In dem gesamten Prozess fühlten sich vor allem jüngere Beschäftigte angesprochen, über Zukunftsperspektiven des Unternehmens nachzudenken und sich in die Veränderungsprozesse einzuklinken. Dies spiegelte sich auch in der Besetzung des Reiseteams wider, in dem nicht zuletzt die designierte Nachfolge in der Geschäftsführung – angesichts eines bevorstehenden Generationenwechsels im Unternehmen – eine wichtige Rolle einnahm.
Jan Gottke, Betriebsbetreuer, IG Metall UlmMit den Betriebsratssprechstunden ist es uns gelungen, das Wissen und die Kreativität der Belegschaft zu mobilisieren. Nicht lamentieren, sondern nach vorne schauen, über eigene Schatten springen und ins Handeln kommen! Das geht nicht immer ohne Konflikte. Doch es lohnt sich, diese auszutragen, wenn es um eine gesicherte Zukunft und damit um die Existenz eines Unternehmens geht!
Auch zwischendurch verstärkten Betriebsrat und IG Metall ihre Kommunikationsarbeit, unter anderem durch Beschäftigtenumfragen per Smartphone, Flyer und gemeinsame Aushänge mit der Geschäftsführung zu Zwischenergebnissen des Projekts.
Zukunftsdebatte verstetigen, Veränderungen einleiten
„Wir sind zuversichtlich, dass sich das Unternehmen infolge des Projekts positiv weiterentwickeln wird“, resümiert Jan Gottke, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Ulm, der das Unternehmen seit Jahren betreut und das Projekt von Anfang an begleitet hat. „Allerdings ist uns auch klar geworden, dass die in den Blick genommenen neuen Produktmöglichkeiten nicht gleich das Geschäft mit den Automatikgetrieben eins-zu-eins ersetzen werden. Deshalb braucht es gezielte Anstrengungen in unterschiedlichen Märkten. Worauf es jetzt ankommt, ist, den Prozess weiter voranzutreiben und erfolgreich zu gestalten. Das setzt voraus, die Impulse der Lernreise nachhaltig im betrieblichen Alltag umzusetzen. Wir haben daher mit der Geschäftsführung die Verabredung getroffen, die Aktivitäten des Reiseteams in einem Trafo-Team auch nach dem Projekt weiter zu verfolgen.“
Einiges ist inzwischen bereits passiert: So werden seit Projektbeginn die verbrennerunabhängigen Auftragseingänge systematisch von der Arbeitsvorbereitung ausgewertet (Auftrags-Monitoring) – und zwar nicht nur in Bezug darauf, was der Komponentenhersteller aktuell produzieren kann, sondern auch mit Blick darauf, ob in den Anfragen Anforderungen enthalten sind, die vielleicht erst in naher Zukunft im Unternehmen umsetzbar sein werden und für die sich das Unternehmen weiterentwickeln muss.
Ferner kümmert sich das Unternehmen seit einigen Monaten verstärkt um den Kontakt zu potenziellen Kunden im Bereich der E-Mobilität und Wasserstoffwirtschaft in der Region. Es hat sich entschieden, mehr in das Marketing zu investieren und die Vertriebskapazitäten aufzustocken, um sich besser für diese neuen Geschäftsfelder positionieren zu können. Neues Marketingmaterial wurde schon in der Projektphase für die Workshops mit den Akteur*innen aus den Zukunftsfeldern erstellt. Außerdem wurden erste neue Shortlists mit möglichen Kunden angelegt.
Überdies zeigt die Geschäftsführung eine erhöhte Bereitschaft, in Zukunftsfelder zu investieren, um dort „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen und die Marktentwicklung mitzugestalten. Ein weiteres Zeichen für die Aufbruchstimmung im Unternehmen ist, dass ein Budget für die Digitalisierung der Betriebsabläufe bewilligt wurde.
Auch mit Blick auf die Beschäftigten orientiert sich das Unternehmen neu. Die Weiterbildung soll einen höheren Stellenwert bekommen. Gedacht ist auch daran, die Kommunikation zwischen den Sozialpartnern – wie in der Lernreise erprobt – zu verstetigen und die Beschäftigten mit neuen Beteiligungsinstrumenten stärker als bisher zu informieren und einzubinden.
Hier sehen sich auch Betriebsrat und IG Metall gefordert, um mehr Mitsprache und Partizipation im Unternehmen zu ermöglichen. „Im Betriebsverfassungsgesetz sind Fragen, die die Unternehmensstrategie betreffen, von der Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen. Die Lernreise hat aber gezeigt, wie wichtig es sein kann, dass die Mitbestimmungsakteur*innen hier trotzdem aktiv werden, um langfristig Beschäftigungsperspektiven zu sichern. Sie hat auch gezeigt, dass es notwendig ist, die Beschäftigten mit ihrem fachlichen Know-how und speziellen betrieblichen Wissen von Anfang an einzubeziehen, wenn ein Mittelständler sich auf den Weg in neue Geschäftsfelder macht “, betont Projektleiter Alexander Ziegler. Die wichtigste Erkenntnis des Projekts sei deshalb die: In einem gemeinsamen Prozess – von der Geschäftsführung, dem Betriebsrat, den Beschäftigten und zusammen mit potenziellen Kunden und erfahrenen Wissenschaftler*innen – steigen die Chancen für KMU, neue Geschäftsfelder zu erschließen und die eigenen Potenziale zukunftsfähig weiterzuentwickeln.
Die sozialpartnerschaftliche Lernreise bei dem Komponentenhersteller in Ulm endete zwar formal mit dem Ende der Projektlaufzeit. Doch das Projekt hat zugleich die Grundlage dafür gelegt, dass diese Reise im Trafo-Team weitergehen wird. Die Initiative des Betriebsrats und der IG Metall hat damit die Chancen erhöht, den Betrieb nachhaltig auf eine gesicherte Zukunft auszurichten.
Ansprechpersonen des Projektes
Projektleiter:
Dr. Alexander Ziegler, ISF München
Maximilian Locher, IG Metall Bezirk Baden-Württemberg
Weitere Kooperationspartner:
Dr. Alexander Kabza, ZSW Baden-Württemberg
Jan Gottke, IG Metall Ulm
Förderlinie Transformation
Digitale Transformation, Klimawandel, Energiekosten - Es gibt viele Treiber von Transformationsprozessen. Folgen für die Arbeitswelt sind u.a. ein hoher Veränderungsdruck auf allen Seiten, in Betrieben, Branchen und Regionen. Im Zentrum der neuen Förderlinie Transformation steht daher: Wir entwickeln sehr konkrete Projekte gemeinsam mit Praxispartner*innen und etablieren eine schnelle Entscheidungsfindung über die Förderung. Wir bringen konkrete aktuelle Herausforderungen in der Praxis von Betriebs- und Personalräten mitbestimmter Unternehmen und Organisationen mit wissenschaftlicher Expertise zusammen – betrieblich, regional, lösungsorientiert.