Georgsmarienhütte
Über den Tellerrand des Betriebs schauen
Mit der Herstellung von Elektrostahl ist das Unternehmen anderen Stahlerzeugern einige Schritte voraus. Dennoch stellt sich dem Betriebsrat die Frage nach weiteren Schritten hin zu einer klimaneutralen Stahlproduktion, verbunden mit Guter Arbeit.
Umwelt- und Klimaschutz sind bereits seit knapp 30 Jahren ein wichtiges Thema bei der Georgsmarienhütte (GMH). Mit seiner Elektrolichtbogenofen-Technologie ist das Unternehmen sogar führend darin, qualitativ hochwertigen Stahl auf Basis von recyclingfähigem Schrott und mit deutlich reduziertem CO2-Ausstoß im Vergleich zu anderen Stahlunternehmen zu produzieren.
Ausschlaggebend für die Umrüstung 1994 war die mangelnde Wirtschaftlichkeit des bis dahin angewandten herkömmlichen Produktionsverfahrens auf Basis von Koks und Eisenerz in Verbindung mit dem KS-Konverter.
Die Georgsmarienhütte, die von 1923 bis 1993 im Besitz der Klöckner Werke war, stand damals vor dem Aus. Angesichts der wachsenden internationalen Konkurrenz, insbesondere aus China, das die Märkte mit subventioniertem Billigstahl spülte, erwies sich die Hütte als kaum mehr wettbewerbsfähig. Das größte Manko neben dem Preisanstieg bei den Rohstoffen war, dass Kohle und Eisenerz per Bahn über lange Strecken zum Werk transportiert werden mussten.
Als der frühere RWE-Chef Jürgen Grossmann 1993 das Werk übernahm, entschied er sich für eine neue Technologie, die ein größeres Potenzial an Wirtschaftlichkeit versprach: Stahlherstellung mithilfe eines Gleichstrom-Elektrolichtbogenofens, der auf Basis von 100 Prozent recyclingfähigem Stahlschrott betrieben wird. Damit legte er vor fast 30 Jahren den Grundstein nicht nur für eine hoch profitable, sondern auch für eine nachhaltige Stahlproduktion – weit früher als andere Stahlunternehmen.
Heute liegt der CO2-Ausstoß bei der GMH bei einem Fünftel der Ausstoßmenge von integrierten Hüttenwerken, die ihren Stahl nach dem herkömmlichen kohlebasierten Verfahren herstellen. Eine Bilanz, die sich sehen lassen kann: Allein mit der Elektrolichtbogenofen-Technologie hat die GMH von 1994 bis heute rund 30 Millionen Tonnen CO2 eingespart. Das entspricht dem Jahresvolumen von rund 14,3 Millionen Mittelklasse-Pkw.
Die Elektrostahlproduktion mit 100 Prozent Schrotteinsatz, wie dies bei der GMH der Fall ist, gilt nach den Maßstäben der EU heute als nachhaltig. Dafür wurde das Unternehmen 2014 von der Klimaschutz- und Effizienzgruppe der Deutschen Wirtschaft als erstes Stahlwerk in den Kreis der Klimaschutzunternehmen aufgenommen und 2021 von der Niedersachsen Allianz für seine ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit ausgezeichnet.
Die Ausgangssituation
Auf ihren Auszeichnungen will und kann sich die Georgsmarienhütte jedoch nicht ausruhen. Den eingeschlagenen Weg, emissionsarmen Stahl bis 2039 vollkommen klimaneutral zu produzieren und gleichzeitig die Qualität des erzeugten Stahls kontinuierlich zu optimieren, will das Unternehmen konsequent weitergehen.
Gleichzeitig besteht für die GMH die Notwendigkeit, sich nach und nach aus der ökonomischen Abhängigkeit von der Automobilindustrie zu lösen und sich für ihre vielfältigen Stahlerzeugnisse neue Märkte zu erschließen.
Die GMH produziert heute rund 500 verschiedene Werkstoffe. Das Spektrum umfasst Rohblöcke und Rohstränge, Stabstähle, etwa zur Verwendung von Halbachsen in Pkw, (geschälte) Blankstähle bis hin zu CNC-bearbeiteten Stählen mit Verzahnungen als feste Einbauteile für die Automobilindustrie und vieles mehr. Einige Produkte werden dem – aus ökologischer Sicht interessanten – Segment „Leichtbaustahl“ zugerechnet.
Aber die GMH hat ein Problem: Der Stahl, den sie produziert, wird gegenwärtig bis nahezu 80 Prozent von der Automobilindustrie und ihren Zulieferern abgenommen. Dabei ist absehbar, dass die E-Mobilität weitaus weniger Stahl benötigt als das Verbrennerauto. Es kommt hinzu: Die Automobilindustrie zeigt zwar Interesse an „grünem“ Stahl. Aber es ist längst nicht klar, ob sie auch bereit ist, die (Mehr-)Kosten dafür zu tragen.
Die GMH schaut sich deshalb verstärkt auf anderen Märkten um, etwa bei der Windindustrie, dem Maschinenbau oder beim Bahnverkehr. Um aber hier erfolgreich zu sein, benötigt das Unternehmen neue Verfahren – beispielsweise zur Materialhärtung, um für diese Märkte etwa spezielle Schrauben oder Wälzlager herzustellen.
Ziel ist die vollständige Dekarbonisierung der Stahlproduktion. Hierfür hat sich die GMH vorgenommen, den Anteil an Kohle, der trotz der Umstellung auf Elektrostahlerzeugung noch immer benötigt wird, Schritt für Schritt zu verringern. Zentrale Bausteine auf diesem Weg sind „grüne“ Wasserstoffanwendungen und „grüner“ Strom. Die vorhandenen E-Öfen sollen zunächst auf Gas – als Übergangslösung – und später vollständig auf „grünen“ Wasserstoff und „grünen“ Strom umgestellt werden. Innovationstreiber hierfür ist der hohe Wettbewerbsdruck auf dem Stahlmarkt.
Erste Projekte zur Nutzung von Wasserstoff wurden innerhalb der GMH-Gruppe bereits entwickelt, so unter anderem zum hundertprozentigen Wasserstoffeinsatz als Brenngas bei Erwärmungs- und Wiedererwärmungsprozessen von Stahlblöcken und Schmiedeteilen.
In diesem Punkt steht die Georgsmarienhütte vor genau den gleichen Herausforderungen wie die gesamte Stahlindustrie: Allein kann sie die nötigen Investitionen für die Forschung und Entwicklung, die Umstellung auf „grüne“ Wasserstofftechnologie und „grünen“ Strom sowie den damit verbundenen Ausbau der Infrastruktur nicht finanzieren. Deshalb sieht der Betriebsrat hier die Politik gefordert, geeignete Rahmenbedingungen für den Ausbau der Wasserstofftechnologie und der Erneuerbaren Energien zu schaffen.
Aber auch das „Drumherum“ der Stahlproduktion, insbesondere Transport und Logistik, steht bei der GMH immer wieder auf dem ökologischen Prüfstand.
Bei den Transportwegen etwa achtet das Unternehmen konsequent darauf, Lkw-Fahrten und zusätzlichen Straßenverkehr zu vermeiden. Der Schrott, der aus aller Welt stammt, gelangt fast ausschließlich mithilfe von Schiff und Bahn ins Werk – über den Mittelland- und Stichkanal Osnabrück zum Osnabrücker Hafen, dann per Bahn nach Hasbergen und schließlich per Bahn zur Georgsmarienhütte.
Die akribische Vorsortierung des Schrotts je nach vom Kunden verlangtem Qualitätsstandard ist ein weiterer Ansatz, um eingesetzte Ressourcen deutlich effizienter zu nutzen. Sie hilft gleichzeitig, die Qualität der Stähle ständig zu verbessern.
Außerdem verfolgt die GMH mehrere Projekte mit dem Ziel: Zero Waste (Null Abfall). Dabei steht der Aufbau einer konsequenten Kreislaufwirtschaft innerhalb des Unternehmens im Zentrum. So etwa wird die Schlacke, ein Abfallprodukt, das bei der Stahlerzeugung anfällt, inzwischen in Eigenregie als Baustoff aufbereitet und weiterverwertet. Perspektivisch soll zudem die Abwärme, die bei der Stahlherstellung an den Aggregaten entlang der Produktionslinie entsteht, größtenteils weitergenutzt werden – zum Heizen von anderen Gebäuden auf dem Werksgelände genauso wie zur Warmwasseraufbereitung.
Darüber hinaus will die GMH – ganz im Sinne nachhaltiger Produktion und „guter Nachbarschaft“ – verstärkt Abwärme an die örtlichen Stadtwerke abgeben und diese ins regionale Fernwärmenetz einspeisen lassen. Allein dadurch erspart das Stahlwerk der Umwelt jährlich 1.500 Tonnen CO2.
Ökologischen Fußabdruck gering halten
Die lange Mitbestimmungstradition der Georgsmarienhütte, die von beiden Seiten – Arbeitgeber und Betriebsrat – gepflegt wird, trägt dazu bei, dass der Betriebsrat in viele Entscheidungen der Arbeitgeberseite, auch wenn es um Zukunftsinvestitionen und -pläne geht, gut eingebunden ist. Dass er sich auch auf der politischen Ebene engagiert, ist dafür kein Hindernis. So hat sich der Betriebsratsvorsitzende zusammen mit der IG Metall unter anderem bei mehreren Gesprächsrunden der Stahlkommission der Bundesregierung für eine sozial-ökologische Transformation der Stahlindustrie eingesetzt und entsprechende Rahmenbedingungen von der Politik eingefordert.
Die Strategie des Unternehmens, den ökologischen Fußabdruck bei der Stahlproduktion möglichst gering zu halten und mit dazu beizutragen, Ressourcen zu schonen und den Wertstoffkreislauf zu optimieren, trägt er aktiv mit.
Siegfried Gervelmeyer, BetriebsratsvorsitzenderDie Georgsmarienhütte hat mit den Elektrostahlöfen nicht mehr die ganz großen technologischen Sprünge vor sich. Daher können wir uns jetzt um die Optimierung der Prozesse im Werk und um die Infrastruktur rund um das Werk kümmern.
Es gibt bei der GMH ein umfassendes datengestütztes Nachhaltigkeitsmanagement, das die Arbeitnehmervertreter*innen unterstützen und in das sie ihre Vorschläge jederzeit einbringen können. Auch im Ausschuss für Arbeitssicherheit und Umwelt des Betriebsrats stehen Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes ständig auf der Tagesordnung. Das betrifft sowohl neue Vorhaben des Arbeitgebers als auch Ideen und Anregungen aus der Belegschaft.
Bei seinem Engagement für nachhaltiges Wirtschaften, Umwelt- und Klimaschutz geht es dem Betriebsrat aber nicht allein darum, Innovationen bei den Produkten und Ressourcen (Erneuerbare Energien, umweltschonende Materialien und Werkstoffe) voranzutreiben. Nicht weniger wichtig ist ihm, die internen Prozesse nachhaltig zu optimieren, um eingesetzte Ressourcen zu schonen beziehungsweise einzusparen und gute Arbeitsbedingungen zu sichern. Stillstandzeiten an den Anlagen sind aus diesem Blickwinkel heraus nicht nur schlecht für die daran arbeitenden Beschäftigten, sondern vergeuden zugleich jede Menge an Energie. Das gleiche gilt für mangelnde Abstimmungsprozesse in der Produktion: Sie verursachen Missverständnisse, blockieren reibungslose Abläufe und verschwenden Ressourcen.
Deshalb legt der Betriebsrat großen Wert darauf, die Beschäftigten in neue Abläufe und Veränderungsprozesse einzubeziehen. Energiepaten, die das Unternehmen selbst ausbildet und die sich in der Belegschaft um Aufklärung in Sachen Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz kümmern, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.
Das Ideenmanagement attraktiver auszugestalten, damit sich möglichst viele Kolleg*innen mit eigenen Vorschlägen daran beteiligen, war dem Betriebsrat in den vergangenen Jahren ein weiteres wichtiges Anliegen. Es stellt heute sicher, dass selbst kleine Verbesserungsvorschläge finanziell belohnt werden, die mithelfen, Abläufe zu optimieren oder Energie einzusparen.
Das neue Ideenmanagement ist aber aus Sicht des Betriebsrats nicht nur ein wichtiges Motivationsinstrument, sondern zugleich ein Kontrollinstrument, das dabei hilft, beim Arbeitgeber nachzuhaken und ihn zu drängen, eingereichte Ideen möglichst zeitnah und umfassend umzusetzen.
Gute Arbeit bindet Fachpersonal
Die klimaneutrale Stahlherstellung muss auch unter den Bedingungen Guter Arbeit möglich sein. Zentrale Bedeutung haben für den GMH-Betriebsrat deshalb Tarifverträge und überhaupt der Erhalt der tariflichen Bindung sowie die Begrenzung von Werkverträgen, Leih- und Zeitarbeit auf ein vertretbares Maß. Das neue Lieferkettengesetz ist für ihn perspektivisch ebenfalls ein wichtiges Instrument, um gute Arbeitsbedingungen nicht nur bei der GMH, sondern entlang der gesamten Wertschöpfungskette, das heißt auch bei den Dienstleistern und Zulieferern, durchzusetzen.
Gute Arbeit hat für ihn auch deswegen einen hohen Stellenwert, weil das Unternehmen in einer ländlichen Region wie dem Osnabrücker Land darauf angewiesen ist, qualifiziertes Fachpersonal, das bereit ist, vielfältige technologische Innovationen und Anpassungsprozesse mitzutragen, langfristig an sich zu binden. Und da an den meisten Anlagen sowohl Spezialwissen als auch viel Erfahrung verlangt wird, investiert die GMH viel in die Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten. Dennoch sieht der Betriebsrat weiteren Optimierungsbedarf. So müssten der Umgang mit neuen Technologien und ökologische Fragen inhaltlich stärker Einzug in die Lehrpläne finden.
Regionale Verantwortung
Die GMH sieht sich als „guter Arbeitgeber“ und als „guter Nachbar“ in Bezug auf die ganze Region in der Verantwortung. Auch beim Betriebsrat ist dieser „Blick über den Tellerrand“ zunehmend präsent. Für den weiteren ökologischen Umbau der GMH hin zur klimaneutralen Stahlproduktion spielen regionale Verankerung und Vernetzung sogar eine wesentliche Rolle – etwa, um den Ausbau der Erneuerbaren Energien voranzutreiben oder eine Infrastruktur für Wasserstoff zu schaffen.
Stephan Soldanski, erster Bevollmächtigter der IG Metall OsnabrückKlima- und Umweltschutz sind Themen, die uns zwingen, verstärkt über den Tellerrand des einzelnen Betriebs hinauszudenken. Das erfordert neue Sichtweisen und koordinierendes Handeln. In der Region stellen sich für die Unternehmen vielfach die gleichen Herausforderungen und offenen Fragen, mit denen auch Betriebsräte konfrontiert werden
Die IG Metall hat dies bereits erkannt. Sie ist gerade dabei, Betriebsräten in und im Umfeld von Osnabrück eine neue Plattform zu geben.
Für den ersten Bevollmächtigten der IG Metall Osnabrück, Stephan Soldanski, steht fest, dass die sozial-ökologische Transformation die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit verändern wird. Sie muss aus seiner Sicht politischer werden. Deshalb möchte er Betriebsräten in der Region eine neue Plattform einräumen, in der beispielsweise folgende Fragen diskutiert und angepackt werden: Welche Wirtschaftskreisläufe über verschiedene Unternehmen hinweg könnten sich etablieren? Wie muss die Infrastruktur beschaffen sein, damit klimafreundliche Technologien – wie die Wasserstoff-, Windkraft- und Solartechnologie – ihren Weg in die Unternehmen finden? Welche unterstützende Industrieansiedlung ist nötig – und wie kann das Umfeld verbessert werden, um Fachkräfte zu halten und gute Arbeitsbedingungen durch Tarifbindung und Mitbestimmung zu gewährleisten?
Kontakt
Siegfried Gervelmeyer, Betriebsratsvorsitzender
Stephan Soldanski, erster Bevollmächtigter der IG Metall Osnabrück