Mitbestimmung. Auslauf- oder Zukunftsmodell für Europa?
Angesichts globaler Wertschöpfungsketten stellt sich auch die Frage nach international kompatiblen und juristisch abgesicherten Mitbestimmungsstandards. Einblicke liefern uns SPD-Generalsekretärin Dr. Katarina Barley, Michael Kellner von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Klaus Ernst, DIE LINKE, Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Dr. Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung.
Mitbestimmung ist ein Modell für Gute Arbeit in Deutschland und Europa
Dr. Norbert Kluge, Leiter der Abteilung Mitbestimmungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung
"Unterrichtung und Anhörung sind in Europa verbriefte Grundrechte. Das macht Arbeitnehmer zu Bürgern im Betrieb. Darüber herrscht in Europa politischer Konsens. Das Prinzip Mitbestimmung ist seit den Gründertagen der Europäischen Union elementarer Bestandteil der europäischen Sozialstaatsverfassung. In 18 der 28 EU-Mitgliedsstaaten und in Norwegen haben Arbeitnehmer auf nationaler Ebene ein Recht, in den obersten Unternehmensgremien ihre Interessen bei Unternehmensentscheidungen einzubringen. Dieses Prinzip steht aber heute unter Druck.
In Deutschland umgehen Unternehmen mehr und mehr mit Bezug auf europäisches Recht die Mitbestimmung. Die europäische Niederlassungsfreiheit wird dazu genutzt, den Registersitz des Unternehmens in einen anderen EU-Mitgliedsstaat zu verlegen und damit in Deutschland Arbeitnehmer von ihrem Mitbestimmungsrecht an der Spitze des Unternehmens abzuschneiden. Im anderen Fall wechseln Unternehmen die Rechtsform. Kurz vor dem Erreichen der Schwellenwerte in den deutschen Mitbestimmungsgesetzen (von 500 bzw. 2000 Mitarbeitern) wird das Unternehmen in eine europäische Aktiengesellschaft (SE) umgewandelt. Das bis zu diesem Zeitpunkt gültige Mitbestimmungsniveau wird auf diese Weise für immer eingefroren, unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer das Unternehmen später einmal in Deutschland haben wird.
Mitbestimmung ist das demokratische Gestaltungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb muss in Deutschland und in Europa der mitbestimmungspolitische Stillstand überwunden werden. Mitbestimmung muss gesichert und ausgebaut werden.
Zuerst ist dafür die Politik auf nationaler Ebene gefordert, gegen die gesetzlich möglichen Schlupflöcher anzugehen. Nationales und europäisches Recht dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, um soziale Standards zuhause und in Europa abzusenken. Nur mit Bezug auf starke Beteiligungssysteme wie die Mitbestimmung kann europäische Politik Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer weiter ausbauen. Das nachhaltige Unternehmen mit Perspektiven für Arbeitsplätze, Standorte und Regionen muss zum Leitbild europäischer Corporate Governance gemacht werden."
Mitbestimmung auch in Europa weiterentwickeln
Michael Kellner, Politischer Bundesgeschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
"Mitbestimmung ist ein Zukunftsmodell für Europa – betriebliche Mitbestimmung genauso wie die unternehmerische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten. Doch für eine wirkungsvolle Mitbestimmung europaweit braucht es starke Grundlagen. Derzeit umgehen viele Unternehmen die betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung, indem sie ihr Unternehmen in den Ländern mit den schwächsten gesetzlichen Regelungen ansiedeln. Das wollen wir ändern: wir fordern, dass europäische Aktiengesellschaften die Zahl der Mitglieder in ihren Aufsichtsräten nicht länger einfrieren können, sondern diese weiterhin entsprechend der deutschen Mitbestimmungsgesetze anpassen. Zudem wollen wir, dass alle Unternehmen mit Verwaltungssitz in Deutschland – auch wenn sie eine ausländische Rechtsform haben – an die deutschen Mitbestimmungsgesetze gebunden sind. Hier fordern wir Sanktionen, sofern sie diese Regelungen nicht einhalten.
Doch nationale Regelungen reichen nicht aus, auch die europäische Ebene muss aktiv werden, um mehr und nicht weniger Mitbestimmung europaweit zu erzielen. Deshalb fordern wir von der Europäischen Kommission eine Richtlinie zu allgemeinen Standards zur Unternehmensmitbestimmung für europäische Unternehmen. Gleichzeitig wollen wir, dass die Gründung von Betriebsräten hierzulande einfacher wird, denn diese sind für einen fairen Interessenausgleich zwischen Geschäftsführung und Belegschaft unerlässlich. Auch haben die Erfahrungen in der letzten Wirtschaftskrise gezeigt, dass die Mitbestimmung zu Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit beiträgt."
Wir wollen mehr Demokratie im Betrieb und Unternehmen
Dr. Katarina Barley, Generalsekretärin der SPD
"Die betriebliche Mitbestimmung und die Mitbestimmung in Unternehmen sind wesentliche Eckpfeiler unserer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung ist ein Kernelement der sozialdemokratischen Vorstellung von Wirtschaftsdemokratie. Sie hat unser Land stark gemacht. Und Mitbestimmung ist Zukunftsmodell. Nur mit Mitbestimmung auf Augenhöhe kann der Wandel zur Arbeitswelt 4.0 erfolgreich und menschengerecht gestaltet werden. Zudem sind mitbestimmte Unternehmen nachgewiesenermaßen innovativer. Die Mitbestimmung muss gestärkt und ausgebaut werden.
Die SPD will die Reichweite der betrieblichen Mitbestimmung erhöhen. Notwendig sind insbesondere eine weitere Vereinfachung des Wahlverfahrens und besserer Kündigungsschutz für die Initiatoren einer Betriebsratswahl. Betriebsräte brauchen zudem mehr Mitbestimmungsrechte bei betrieblichen Bildungsmaßnahmen und beim Einsatz von Fremdbeschäftigung, etwa über Werkverträge. Im Bereich der Unternehmensmitbestimmung wollen wir den Schwellenwert für die Geltung der paritätischen Mitbestimmung auf 1.000 Beschäftigte senken. Beschäftigung jenseits der Kernbelegschaften muss künftig systematisch bei den Schwellenwerten für die Drittel- und die paritätische Mitbestimmung berücksichtigt werden. Das deutsche Mitbestimmungsrecht muss auch auf Unternehmen in ausländischer Rechtsform mit Sitz in Deutschland erstreckt werden.
Die obligatorische Einbeziehung der Arbeitnehmer gehört zu den europäischen Grundrechten. Dennoch mehren sich die Versuche, die Mitbestimmung über europäisches Gesellschaftsrecht auszuhebeln. Schlupflöcher, wie sie etwa bei der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) zur Vermeidung von Mitbestimmung genutzt werden können, müssen geschlossen werden. Die Rechte der europäischen Betriebsräte müssen gestärkt werden. Die Stärkung der Arbeitnehmerrechte ist zentral für die Akzeptanz der europäischen Einigung bei den Menschen."
Unternehmen sind erfolgreich, wenn sie bei ihren Entscheidungen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einbeziehen
Klaus Ernst, Mitglied des Bundestages, DIE LINKE
Mitbestimmung – auf Betriebsebene wie auf Unternehmensebene – ist wie auch die Tarifpolitik ein wichtiges Element, mit dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Interessen als abhängig Beschäftigte im Betrieb und Unternehmen anbringen, oft auch durchsetzen können.
Deshalb ist die Mitbestimmung in der Unternehmenskultur eher rückständiger Unternehmen und deren Vorständen ein Angriffspunkt. Sie nutzen europäisches Recht aus, um eine wirksame Einflussnahme ihrer Beschäftigten zurückzudrängen. Dem muss durch eine rechtliche Stärkung der Unternehmensmitbestimmung auf europäischer Ebene etwas entgegen gesetzt werden.
Mitbestimmung auf Unternehmensebene bedeutet aber auch, Einflussmöglichkeiten wahrzunehmen. Zumindest bei der Entscheidung über die Bezüge von Vorstandsmitgliedern, obwohl sie – trotz exorbitanter Höhen – leider allzu oft mit wenig Widerspruch der Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten erfolgen, ist ein Nachdenken über den richtigen Kurs notwendig.
Auch auf nationaler Ebene erleben wir, dass Rechte von Arbeitnehmervertretern nicht beachtet oder durch Unternehmenspolitik unterlaufen werden. Dem muss durch einen besseren Schutz und einem erleichterten Wahlverfahren für Betriebsräte ein Riegel vorgeschoben werden. Notwendig ist aber auch eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten, etwa bei wirtschaftlichen Angelegenheiten, bei befristeter Beschäftigung oder bei Leiharbeit und der Vergabe von Werkverträgen.
Viele Konservative wünschen sich, dass Mitbestimmung ein Auslaufmodell wäre. Es liegt an den Arbeitnehmern selbst, ihren Gewerkschaften, aber auch an der Politik, die Mitbestimmung auf allen Ebenen zu verteidigen und auszubauen.
Unternehmen sind dann erfolgreich, wenn sie bei ihren Entscheidungen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einbeziehen. Das prägt eine moderne Unternehmenskultur. Autoritärer und nicht auf Konsens, sondern auf Konfrontation ausgerichteter Führungsstil dagegen gefährdet durch die dadurch entstehenden inneren Konflikte oft die nachhaltigen Ziele des Unternehmens. Modern und erfolgreich ist deshalb, Mitbestimmung zu verteidigen und auszubauen, auch im Interesse der Unternehmen.
Wir brauchen einen gesellschaftlichen Impuls für die Mitbestimmung
Peter Weiß, Mitglied des Bundestages, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Eine funktionierende Mitbestimmung ist von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Sie hat positive Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen.
Für die Weiterentwicklung der Mitbestimmung bedarf es nicht allein gesetzgeberischer Maßnahmen, sondern eines gesellschaftlichen Impulses. Wir brauchen mehr Menschen, die aus Überzeugung an gesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen – und dazu gehört auch die Partizipation in der Arbeitswelt - mitwirken wollen.
Die deutsche Mitbestimmung und ihre Standards dürfen nicht europäischen Vereinheitlichungsprozessen geopfert werden.
Es liegt nicht in erster Linie an der Politik, ob die Mitbestimmung als Erfolgsmodell Zukunft hat. Die Beteiligten sind aufgefordert, die Vorteile der Mitbestimmung herauszustellen und Skeptiker zu überzeugen. Hier gibt es noch viel Arbeit. (Beispiel: Zerrbild der Aufsichtsräte in Kommentaren im Netz - Versorgung betriebsfremder Funktionärseliten, hohe Entschädigungen und kein Einfluss. Kritisierte Entscheidungen wie etwa hohe Vorstandsvergütungen wurden von Arbeitnehmervertretern oft mitgetragen.)
Die Sozialpartner sind weiterhin aufgefordert, die Tarifbindung zu erhöhen. Hierfür hat die Bundesregierung bereits eine Vorlage geliefert (Tarifautonomiestärkungsgesetz). Die Instrumente der Sozialpartnerschaft müssen ausgebaut und ggf. gemeinsam verteidigt werden (Beispiel: Sozialkasse Bau).
Wir müssen, wo erforderlich, Betriebsratsgründungen zur Durchsetzung verhelfen und Wahlvorstände und Kandidaten vor Nachteilen schützen.
Wir brauchen in der 19. Wahlperiode eine Kommission ähnlich der „Biedenkopf-Kommission“ als Wegbereiter des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Nur auf dieser Ebene können wir der komplexen Herausforderung durch eine sich verändernde Arbeitswelt gerecht werden. Eine solche Kommission mit herausgehobener öffentlicher Wahrnehmung kann auch zu einem vertieften partizipatorischen Verständnis in der Gesellschaft führen. Gerade den Beschäftigten in den sog. neuen Branchen fehlt häufig das Verständnis für den Sinn von Mitbestimmung und Betriebsräten, und sie glauben, dass sie das alles nicht brauchen. Wenn die Mitbestimmung eine Zukunft haben soll, müssen wir diese Beschäftigtengruppen „mitnehmen“.
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