Situationsanalyse: Ökologischer Umbau Chemiepark
„Grüne“ Transformation regional gestalten
Die „grüne“ Transformation im ChemCoastPark Brunsbüttel wird die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen in der Region verändern. Wie sehr und in welchem Ausmaß, kann mithilfe einer arbeitnehmerorientierten Situationsanalyse erkundet werden.
Mit seiner chemischen Grundstoffproduktion, der Ölverarbeitung- und Energieerzeugung ist der ChemCoastPark Brunsbüttel das größte Industriegebiet Schleswig-Holsteins. Er steckt mitten in einem gewaltigen Veränderungsprozess, der bereits 2011 mit dem Rückbau des dortigen Kernkraftwerks begonnen hat, das schon seit 2007 heruntergefahren war. Aktuell steht ihm ein weiterer wirtschaftlicher Umbau bevor – allerdings in einer weit größeren Dimension: die „grüne“ Transformation.
Der aus einem ehemaligen Werk der Bayer AG entstandene Chemiepark verfügt direkt in Brunsbüttel über rund 4.000 Arbeitsplätze, beeinflusst aber über 12.500 Arbeitsplätze in der gesamten Region. Hier haben sich in den letzten 40 Jahren zahlreiche Unternehmen aus der Chemie-, Mineralöl-, Energiewirtschaft und Logistik angesiedelt. Dazu gehören unter anderem Holcim, Yara, Sasol, Covestra, Total, Lanxess und Wintershall Dea. Ganz in der Nähe liegen die Raffinerie Heide und das im Bau befindliche Werk des schwedischen Herstellers Northvolt, das ab 2026 Batteriezellen für E-Autos herstellen wird.
Alle dort ansässigen Unternehmen, insbesondere die energieintensiven Firmen, sind gefordert ihren CO2-Ausstoß zu verringern und Energiekosten einzusparen, um international wettbewerbsfähig bleiben zu können. Einige von ihnen experimentieren bereits mit grünem Wasserstoff und anderen Zukunftstechnologien. Aber die großen Investitionen in nachhaltige Energiegewinnung und Produktion bleiben bislang aus.
Es mangelt an konkreten Perspektiven für die Region und – von wenigen Ausnahmen abgesehen – an klaren Bekenntnissen der Unternehmen, ihre dortigen Standorte zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Für ihre Zögerlichkeit machen sie vor allem die öffentliche Hand verantwortlich. Von ihr erwarten die Arbeitgeber insbesondere gezielte Investitionsanreize und mehr Planungssicherheit, um Prioritäten setzen zu können. Von einer Aufbruchstimmung in eine ökologisch-nachhaltige Zukunft ist auch bei den Beschäftigten wenig zu spüren.
In dieser Situation trafen sich Betriebsräte aus der Region, unterstützt durch den DGB Bezirk Nord und die Gewerkschaft IG BCE, um dieses Vakuum bei steigendem Problemdruck zu füllen und sich gezielt mit Zukunftsszenarien und darauf gerichteten Handlungsstrategien für den ChemCoastPark zu befassen. Die meisten von ihnen treffen sich bereits seit Jahren zu einer regelmäßig stattfindenden Betriebsräterunde Westküste, in der ein überbetrieblicher Informationsaustausch über die wirtschaftliche Situation der Unternehmen und der Region stattfindet.
Etwas Ähnliches gibt es auch auf der Seite der Arbeitgeber: Diese etablierten – ebenfalls vor Jahren – eine regionale Werkleiterrunde. Hier sind es Geschäftsleiter und Unternehmensvertreter*innen, die sich sowohl mit aktuellen Herausforderungen als auch mit der Zukunftsentwicklung der Region befassen.
Zu beiden Zusammenschlüssen werden Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit – darunter der örtliche Bürgermeister und ein Vertreter der Landesregierung (Brunsbüttel-Koordinator) – geladen. Bisher aber gelingt es nicht so recht, die Interessen der Werkleiter und die der Arbeitnehmervertretungen und Gewerkschaften an einem planvollen und gesicherten Ausbau des Industriestandorts zu bündeln und an die Politik zu adressieren.
Im Frühjahr 2023 waren es schließlich der DGB Bezirk Nord zusammen mit der IG BCE Schleswig-Holstein, die anregten, die Frage: „Wo liegt das Gemeinsame, wo das Trennende, um die Industrieregion zukunftsfähig zu machen?“ in einem Projekt mit wissenschaftlicher Begleitung im Rahmen der Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung vertieft zu bearbeiten. Es ging ihnen darum, eine Bestandsaufnahme bezogen auf die aktuelle Situation und die anstehenden Veränderungen in und um den ChemCoastPark Brunsbüttel herum vornehmen zu lassen, bei der explizit die Perspektive der Beschäftigten berücksichtigt werden sollte.
Erste Bestandsaufnahme: Euphorie und Skepsis
Zwei Leitfragen bestimmten das Projekt von Anfang an: Mit welchen Herausforderungen, Veränderungen und gegebenenfalls Problemen mit Blick auf die „grüne“ Transformation sind die Beschäftigten in der Region aktuell und in der Zukunft konfrontiert? Und: Welche Konflikte ergeben sich daraus in den Unternehmen und im regionalen Umfeld; welche Lösungsstrategien beziehungsweise Beispiele guter Praxis bieten sich an?
Um Antworten darauf zu finden, regten Dr. Judith Beile (Projektleiterin) und ihre Mitarbeiterin Katrin Schmid (beide bei wmp consult in Hamburg) an, methodisch unterschiedliche Wege zu gehen. Ihr Vorschlag: eine Online-Befragung unter den Beschäftigten in verschiedenen im ChemCoastPark angesiedelten Unternehmen durchzuführen; die Befragungsergebnisse in der Betriebsräterunde Westküste zu präsentieren und dabei auch die Rolle der Betriebsräte bei der Umsetzung der „grünen“ Transformation zu diskutieren; intensive Einzelinterviews mit Vertreter*innen aus Unternehmen und Politik, aus Verbänden und Institutionen der Wirtschaftsförderung zu führen, um auch deren Sicht in die Bestandsaufnahme einzubringen. Die so gewonnenen Erkenntnisse sollten zum Ende der Projektlaufzeit in eine arbeitnehmerorientierte Situationsanalyse einfließen und auf einem Abschlussworkshop mit den regionalen Akteur*innen besprochen werden, um ihnen Impulse für ihr jeweiliges praktisches Handeln zu geben.
Das Projekt „Wie kann die sozial-ökologische Transformation in der Region gelingen – eine exemplarische Analyse aus Arbeitnehmersicht am Beispiel der energieintensiven Unternehmen der Region Westküste/ChemCoastPark Brunsbüttel“ ging vor allem der Frage nach, wie sich der wirtschaftliche Umbau vor Ort aktuell zeigt, mit welchen Herausforderungen mit Blick auf die zukünftige Entwicklung zu rechnen ist und welche konkreten Folgen dies alles für die Beschäftigten in der Region haben könnte.
Ziel war es, auf der Basis von Beschäftigtenbefragungen, Workshops mit Betriebsräten und Expert*inneninterviews eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der Region zu machen und ein Impulspapier mit Empfehlungen zu erarbeiten. Auf dieser Basis wollte man in einen vertieften Dialog mit den wichtigsten regionalen Akteur*innen – dazu zählen Unternehmens- und Arbeitnehmervertreter*innen wie auch Expert*innen aus Wissenschaft und Politik – kommen.
Das Projekt wurde mit einem Abschlussworkshop Ende Mai 2024 im Rahmen der Betriebsräterunde Westküste beendet, auf dem Handlungsoptionen für die nahe Zukunft des ChemCoastPark diskutiert wurden. Die Ergebnisse des Projekts waren auch Thema auf einer industriepolitischen Konferenz des DGB Bezirk Nord Anfang Juni 2024 in Brunsbüttel, die auf großes Interesse in der Öffentlichkeit stieß.
Die Idee einer Online-Befragung unter den Beschäftigten entstand gleich zu Anfang des Projekts relativ spontan. In den Vorgesprächen zeichnete sich bereits deutlich ab, dass die Betriebsräte in und rund um den ChemCoastPark unter starkem Handlungsdruck standen, der oft vom Management forciert wurde. Deshalb war es dem Projektteam wichtig, die Meinung der Beschäftigten aus verschiedenen Unternehmen zu den in ihrem Betrieb geplanten oder bereits stattgefundenen „grünen“ Vorhaben detaillierter kennenzulernen und miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise sollte ein umfassenderes Bild der Interessenlage der Beschäftigten in der Region entstehen. An der Online-Befragung nahmen rund 120 Beschäftigte teil.
Ihr folgte im Dezember 2023 ein Workshop mit Aktiven der Betriebsräterunde Westküste, auf dem vor allem deren Einschätzung und Erfahrungen bezüglich des Stands der „grünen“ Transformation in den Unternehmen der Region und ihrer Rolle als Mitbestimmungsakteur*innen thematisiert wurde.
Die aus der Beschäftigten-Befragung und dem Workshop gewonnenen Ergebnisse wurden dann zusammen mit Erkenntnissen aus den ersten Interviews mit Expert*innen aus Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und Politik in eine Zwischenbilanz eingebracht. Dabei fiel die große Diskrepanz bei der Bewertung des aktuellen Stands der Transformationen insbesondere zwischen den betrieblichen und wirtschaftspolitischen Akteur*innen auf.
Geradezu euphorisch schilderten die Vertreter*innen aus Wirtschaft und Politik die Chancen für die Region durch die geplante Ansiedlung des Batteriezellenwerks von Northvolt und die bereits bestehende hohe Verfügbarkeit von „grünem“ (vorwiegend aus Offshore-Windkraft gewonnenem) Strom. Große Hoffnung setzten sie auch auf die Pläne zum Aufbau eines bundesweiten Wasserstoffkernnetzes, nach denen der Industriestandort Brunsbüttel sich zu einem großen Wasserstoff-Hub entwickeln könnte.
Demgegenüber überwog bei den Betriebsräten, Beschäftigten und Unternehmensvertreter*innen eher Skepsis bei der Beurteilung der aktuellen Lage. Teilweise stuften sie die Situation sogar als besorgniserregend ein. Vor allem beklagten sie den derzeitigen Stillstand rund um Entscheidungen zur „grünen“ Transformation. Projekte würden abgesagt, neue Investitionen verzögerten sich. Und die Möglichkeiten, im großen Stil den CO2-Ausstoß zu verringern, würden von den Unternehmen trotz guter Voraussetzungen nicht ausgeschöpft.
Ökologischer Umbau in Dorfgeschwindigkeit
Norbert Wagner, Gesamtbetriebsratsvorsitzender Holcim Deutschland GmbH, Lägerdorf)„Eine Aufbruchstimmung in der Belegschaft für die grüne Transformation gibt es momentan nicht. Bei uns verläuft das Ausbauverfahren für die neue Zementanlage mit deutlich geringerem CO2-Ausstoß bisher schleppend – nicht mit Deutschland-, sondern eher mit Dorfgeschwindigkeit. Das liegt an unterschiedlichen Faktoren, unter anderem an den Genehmigungsverfahren. Hinzu kommt: Die wirtschaftliche Lage am Bau ist katastrophal. Es wird zu wenig gebaut. Bei Holcim sind in diesem und im letzten Jahr die Aufträge deutlich zurückgegangen. Das alles drückt auf die Stimmung unter den Beschäftigten. Sie glauben kaum noch an einen Fortschritt und verlieren das Vertrauen in die Politik, weil alles so langsam geht. Auch wenn sie sehen, dass das Unternehmen in die Zukunft investiert: Die Informationen der Geschäftsführung kommen bei ihnen nicht mehr an. Damit sind wir Betriebsräte gefordert, eher den Job der Geschäftsführung zu machen: die Kolleginnen und Kollegen umfassend informieren, statt ihnen Halbwahrheiten zu vermitteln; sie ermuntern, dabeizubleiben und ihnen berufliche Perspektiven aufzeigen. Wir wollen keine Leute verlieren, sondern Fachkräfte und unsere Azubis halten und auch den Älteren innovative Jobs anbieten. In der jetzigen Lage ist das alles nicht leicht, denn das Unternehmen steht stark unter Druck. Also müssen wir strategisch vorgehen und geschickt mit dem Mutterkonzern umgehen. Aber wir erkennen auch, dass der Arbeitgeber die Transformation als notwendig und als eine große Chance ansieht, die er – zumindest hier vor Ort – gemeinsam mit uns Betriebsräten unter anderem im Transformationsteam voranbringen will.
Hierfür nannten sie mehrere Gründe. So habe sich gezeigt, dass die meisten Betriebe vor Ort weitgehend unbeschadet aus der Strom- und Energiepreiskrise herausgekommen sind. Die Arbeitgeber seien deshalb von der Dringlichkeit ökologischer Veränderungen nicht überzeugt. Die betriebliche Auslastung sei zumeist gut. Noch verfügten sie über ein stabiles Auftragsvolumen, das sie mit den vorhandenen Kapazitäten und Anlagen bewältigen könnten. „Kurzum: Mit Öl- und Gas lässt sich dort noch immer gut Geld machen“, so beschreibt Dr. Judith Beile die Situation. „Hinzu kommt: Die Politik setzt bei der CO2-Reduktion in erster Linie auf freiwillige Maßnahmen der Unternehmen. Der politische Druck, um ‚grüne‘ Umrüstungen auf den Weg zu bringen, ist deshalb bisher noch eher schwach ausgeprägt.“ Auch mangele es an klaren Zusagen für Fördermittel aus der EU, dem Bund und dem Land, so die Wissenschaftlerin.
Mit der Aufbruchstimmung, die die Vertreter*innen aus Wirtschaftsverbänden und Politik in den Befragungen zeigten, kontrastiert die skeptische Sicht der Unternehmens- und Arbeitnehmervertreter*innen. Sie begründet sich vor allem dadurch, dass zum damaligen Zeitpunkt mehrere geplante „grüne“ Wasserstoffprojekte verschoben oder ganz abgesagt wurden. Dies führte zu einer massiven Planungsunsicherheit auch in anderen Unternehmen. So etwa plante Covestro lange Zeit, in Brunsbüttel „grünes“ Anilin herzustellen und einen eigenen Elektrolyseur über ein eigenes Photovoltaik-Feld zu betreiben. Das Unternehmen entschied sich jedoch, die Anlage in Antwerpen zu bauen. Inzwischen gibt es Bestrebungen des Konzerns, wichtige Teile des niederländischen Chemiekonzerns DSK zu übernehmen, was die Arbeitsplätze in Brunsbüttel nicht sicherer macht. Auch der Chemiekonzern Yara International plante, in der Region einen 250 Megawatt-Wasserstoffelektrolyseur zu bauen, um „grünes“ Ammoniak herzustellen. Die Förderzusage vom Bund liegt zwar vor, das Projekt wurde aber bisher nicht realisiert. Für beide Unternehmen – Covestro und Yara – scheint es attraktiver zu sein, grünen Wasserstoff von anderen Herstellern in der Region zu beziehen als ihn selbst herzustellen. Auch der Plan des „Reallabors Westküste 100“ in Heide, eine 30 MegaWatt-Anlage zur Herstellung von „grünem“ Wasserstoff aufzubauen, hat sich zerschlagen. Die Investoren halten sich zurück, weil sie den dauerhaften Betrieb einer solchen Anlage als nicht wirtschaftlich einschätzen. Einzig der schwedische Konzern Holcim hält an seinen Zusagen fest, eine große Elektrolyse-Anlage (HyScale 100) zusammen mit der Raffinerie Heide zu realisieren. Eine Produktionsanlage für Zement, die CO2 künftig abfangen und industriell nutzbar machen will, befindet sich bereits im Bau.
Die befragten Betriebsräte und Expert*innen aus den Unternehmen befürchteten außerdem eher Rückschritte als zukunftssichernden Fortschritt mit Blick auf die Beschäftigung in der Region. „Was die Kolleginnen und Kollegen bewegt, ist weniger die Transformation als vielmehr die Angst vor Arbeitsplatzverlust.“ Diese Aussage eines Betriebsrats ist symptomatisch. Diese Skepsis hat vor allem mit dem hohen Kostendruck zu tun, der auf den Unternehmen lastet und im Alltag immer stärker spürbar wird. Die Betriebsräte und Beschäftigten erleben eine zunehmende Arbeitsverdichtung und beobachten, wie sich manche Tätigkeitszuschnitte verändern, teilweise zu ihrem Nachteil.
„Die Beschäftigten sehen zwar die Möglichkeit, dass sie grundsätzlich von einer ‚grünen‘ Transformation profitieren könnten“, berichtet Katrin Schmid von wmp consult. „Aber sie sind sich darüber bewusst, dass dieser industrielle Umbau einer Marktlogik mit den entsprechenden Risiken folgt.“ Fakt ist, dass die meisten im ChemCoastPark Brunsbüttel angesiedelten Unternehmen in eine internationale Konzernstruktur eingebunden sind und damit innerhalb des Konzerns in einem starken Wettbewerb stehen – nicht nur auf europäischer, sondern auch auf internationaler Ebene. Überdies handelt es sich dabei überwiegend um kleinere und stark spezialisierte Konzernbetriebe.
Unterm Strich zeigte sich zum Zeitpunkt der Zwischenauswertung zwar bei alle befragten Akteur*innen ein hohes Interesse am ökologischen Umbau des Industriestandorts, um den Anschluss an Zukunftsentwicklungen nicht zu verlieren. Aber sie setzten bis dahin kaum eigene Impulse. Es konnte ebenfalls festgehalten werden, dass sie unter „grüner“ Transformation nicht das Gleiche verstehen. Die Umrüstung von Unternehmen auf LNG etwa bewerteten Umweltverbände anders als manche Unternehmensführung. Deutlich wurde ebenfalls: Ein von allen regionalen Akteur*innen mitgetragenes zukunftsorientiertes Leitbild des Industriestandorts existiert nicht. Selbst über die Frage, welche Orte und Industrieansiedlungen mit zum ChemCoastPark/Industriestandort Westküste gehören, wird gestritten: Zählt die Neuansiedlung des Batteriezellenwerks von Northvolt mit dazu? Müsste man es für eine strategische Entwicklung der Region mitberücksichtigen?
Hausaufgaben machen, Impulse setzen
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen befasste sich das Projekt im zweiten Teil mit der Frage, wie es gelingen kann, die Debatte über die Zukunft der Region in Schwung zu bringen und den regionalen Dialog zu verstetigen. Wie könnte dieser genutzt werden, um bestehende Ambivalenzen nicht kleinzureden, sondern transparent zu machen, um gemeinsame Ziele zu definieren und Investitionsbedarfe zu kalkulieren und um Beispiele guter Praxis in die Öffentlichkeit zu tragen, die die Potenziale der Region deutlich machen?
Nach einer Auswertung der Befragungen und Interviews erarbeiteten die Wissenschaftlerinnen zunächst eine Stärken-Schwächen-Analyse, die auch Chancen und Risken der Industrieregion benannte.
Ergänzend dazu formulierten sie „Hausaufgaben“ für unterschiedliche Adressaten mit dem Ziel, diese in einen erweiterten regionalen Dialog einzubringen. „Wir wollen damit Impulse geben, um der beobachteten ‚Verantwortungsdiffusion‘ mit konkreten Forderungen an die regionalen Akteur*innen entgegenzutreten“, erklärt Katrin Schmid. Diese richten sich jeweils an die Landes- und Bundespolitik, aber auch an die Unternehmen/Management, Gewerkschaften, Betriebsräte und Gemeinden/Kreise.
Zentrale Rolle von Mitbestimmung und Beteiligung
Aus Sicht der Projektbeteiligten nehmen Betriebsräte beim „grünen“ Umbau der Unternehmen eine Schlüsselrolle ein. Im Rahmen ihrer Mitbestimmungsrechte und -strukturen sollten sie stärker initiativ werden und eigene Themen in die betriebliche Öffentlichkeit lancieren. Dies würden die anderen regionalen Akteur*innen insbesondere aus der Politik – das zeigten die Interviews – auch von ihnen erwarten. Solchermaßen proaktives Agieren setze allerdings voraus, dass Betriebsräte ein eigenes Interesse an einer Transformation des Unternehmens entwickelten, eigene Themen voranbrächten und die Beschäftigten in ihre Vorhaben stärker einbänden.
In den Befragungen sowohl der Beschäftigten als auch in den Gesprächen mit den Expert*innen aus Unternehmen, Wirtschaft und Politik wurde häufig der bestehende Fachkräftemangel in der Region angesprochen. Insbesondere die Werkleiter*innen und Unternehmensvertreter*innen schilderten ihre Sorge, dass Fachkräfte aus ihren Unternehmen gerade durch die Neuansiedlung des Northvolk-Batteriezellenwerks abziehen könnten, um in dem modernen Werk einen neuen und attraktiveren Arbeitsplatz zu finden. Dabei befänden sich die Arbeitsbedingungen doch im gesamten Bereich des ChemCoastParks auf einem hohen Level.
Dieses hohe Niveau aufrecht zu erhalten und noch dazu stärker sichtbar zu machen, dass gute Arbeit und ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Unternehmen positiv auf den Verbleib und die Akquise von Fachkräften wirken kann, sehen die beiden Wissenschaftlerinnen des Projekts ebenfalls als wichtige Aufgabe von Betriebsräten an. „Vor allem junge Leute stellen heute hohe Ansprüche an ihre Arbeitgeber. Sie bewerben sich eher bei Firmen, die sich ökologisch und sozial nachhaltig aufstellen. Diesen Ball könnten Betriebsräte aufgreifen, indem sie die Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber über ökologisches Commitment, gute Arbeit und Tarifbindung führen und dabei eigene Akzente im Transformationsgeschehen setzen“, sagt Dr. Judith Beile.
Auch die Themen Aus- und Weiterbildung bekommen in der Transformation aus Sicht der Wissenschaftlerinnen immer mehr Bedeutung. Eine zentrale Aufgabe von Betriebsräten sehen sie darin, darauf zu achten, dass die gesamte Belegschaft an den Chancen der Transformation teilhaben kann. Dazu sei es notwendig, alle Beschäftigten fit zu machen, damit sie die neuen Transformationsanforderungen bewältigen und Veränderungsprozesse mitgestalten können. Ebenfalls erforderlich sei, entsprechendes Transformationswissen im Unternehmen aufzubauen. Dafür sollten Betriebsräte von den Arbeitgebern höhere Bildungsinvestitionen einfordern und eigene Ideen für zukunftsorientierte Bildungsmaßnahmen entwickeln beziehungsweise auf den Weg bringen.
Als Dilemma betrachtet es das Projektteam allerdings, dass viele der befragten Betriebsräte diese Aufgaben als zusätzliches Engagement ansehen, das neben dem Alltagsgeschäft stattfinden muss. Hier bedürfe es mehr gewerkschaftlicher Unterstützung, um sie zu entlasten. Zugleich aber wachse bei ihnen die Erkenntnis, dass der ökologische Umbau notwendig sei und dass „die Maßnahmen unseres Unternehmens zur ‚grünen‘ Transformation … richtig“ sind.
Meike Wiese, Betriebsratsvorsitzende TotalEnergies Bitumen Deutschland GmbH, BrunsbüttelEs ist keineswegs so, dass wir nicht informiert werden. Das Gegenteil ist der Fall: Auf allen Kanälen kommuniziert das Unternehmen seine weltweiten Transformationsvorhaben. Allerdings betreffen diese nur zu einem geringen Teil meine persönliche Arbeit. Diese Informationsflut bindet viel Energie, aber ich sehe das positiv. Es ist eher mein Dilemma, dass ich nicht die Zeit habe, mich täglich mit den vielen, teils hochspannenden Fakten intensiver zu befassen. Mein Blick richtet sich deshalb hauptsächlich auf das, was hier vor Ort passiert. Da sind wir auf gutem Wege, kümmern uns um Solartechnik, E-Lade-Möglichkeiten, Reduzierung von CO2-Emissionen und vieles andere mehr und achten darauf, dass das Unternehmen durch ökologisches Engagement attraktiver für die Beschäftigten, aber auch für potenzielle neue Fachkräfte wird.
Ferner richtet sich das „Hausaufgaben“-Paket an die Gewerkschaften. Aus Sicht des Projektteams sollten diese den Mitbestimmungsakteur*innen spezielle Bildungsangebote zum sozial-ökologischen und digitalen Umbau der Unternehmen unterbreiten. Zugleich konstatiert es gerade bei Betriebsräten einen hohen Bedarf an strategischem Know-how, um Themen langfristig anzugehen, Beteiligungsprozesse unter den Beschäftigten zu fördern und den Informationsaustausch untereinander zu intensivieren.
„Früher war mehr Austausch“: Bei den befragten Betriebsräten war dies eine häufig vorgetragene Kritik, die sie an die Gewerkschaften adressierten. Die Zusammenarbeit zwischen den Betriebsräten sei bis vor einigen Jahren noch weitaus stärker gewesen als heute; sie habe mitunter sogar zu Synergieeffekten geführt, weil sie sich untereinander beispielsweise auch über neue Produkte und Produktionsverfahren informierten. Heute wünschen sie sich eine stärkere Vernetzung untereinander und neue Dialogformate, die den direkten Kontakt – vielleicht sogar Allianzen – zwischen Mitbestimmungsakteur*innen, Gewerkschaften und Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Verbänden fördern.
Von den Unternehmen erwarten die Projektbeteiligten, dass diese mehr und in größerem Umfang als bisher in den „grünen“ Ausbau, insbesondere in die Reduzierung von Treibhausgasen, investieren. Sie verlangen außerdem von ihnen, sich klarer zum Standort zu bekennen und sich langfristig für dessen Zukunftsentwicklung zu engagieren. Auch sollten sie die Betriebsräte stärker in das Transformationsgeschehen einbinden.
Die weiteren „Hausaufgaben“ an Land und Bund wie auch Kommunen und Unternehmen lassen sich in etwa so zusammenfassen: Gefordert werden mehr Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in eine verbesserte Schienenanbindung der Unternehmen, gleichzeitig auch in den ÖPNV und in den Wohnungsbau. Genehmigungsverfahren sollten beschleunigt und langfristige standortbezogene Energiekonzepte auf den Weg gebracht werden. Gewünscht wird ferner, dass Fördergelder stärker an sozial-ökologische Bedingungen geknüpft und die Marktbedingungen für „grünen“ Wasserstoff verbessert werden. Überdies sollen Land und Bund nicht nur die aufstrebenden neuen, sondern auch die Unternehmen der „old economy“ im Blick behalten. Aus Projektsicht ebenfalls wichtig ist, mehr Planungssicherheit zu schaffen und die lokalen beziehungsweise regionalen Akteur*innen untereinander stärker zu vernetzen.
Ansprechpersonen des Projekts
Projektleiterin:
Dr. Judith Beile, Geschäftsführerin bei wmp consult – Wilke Maack Gmbh
Projektbearbeitung:
Katrin Schmid, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei wmp consult – Wilke Maack GmbH
Weitere Kooperationspartner:
Heiko Gröpler, Leiter der Abteilung Struktur-, Industrie- und Dienstleistungspolitik beim DGB Bezirk Nord
Henrike Rauber, Bezirksleiterin IG BCE Schleswig-Holstein
Förderlinie Transformation
Digitale Transformation, Klimawandel, Energiekosten - Es gibt viele Treiber von Transformationsprozessen. Folgen für die Arbeitswelt sind u.a. ein hoher Veränderungsdruck auf allen Seiten, in Betrieben, Branchen und Regionen. Im Zentrum der neuen Förderlinie Transformation steht daher: Wir entwickeln sehr konkrete Projekte gemeinsam mit Praxispartner*innen und etablieren eine schnelle Entscheidungsfindung über die Förderung. Wir bringen konkrete aktuelle Herausforderungen in der Praxis von Betriebs- und Personalräten mitbestimmter Unternehmen und Organisationen mit wissenschaftlicher Expertise zusammen – betrieblich, regional, lösungsorientiert.