Digitalisierungscheckliste: Gestaltungstool EBR
Selbstwirksamkeit durch Frühwarnsystem stärken
Die Digitalisierung ist in der europäischen Pharmaindustrie ein maßgeblicher Transformationstreiber. Europäische Betriebsräte (EBR) sind durch sie stark gefordert. Eine Digitalisierungscheckliste kann sie dabei unterstützen, ihre Mitwirkungsrechte bei den anstehenden digitalen Veränderungsprozessen voll auszuschöpfen.
Für global agierende Unternehmen ist die digitale – neben der sozialökologischen – Transformation eine gigantische Herausforderung. Das gilt vor allem für die international stark verflochtene europäische Pharmaindustrie. Mit ihr verbindet die Branche neue profitable Geschäftsfelder, aber auch – insbesondere im Rückblick auf die Corona-Pandemie – eine Stärkung ihrer Wertschöpfungs-, Liefer- und Wissensketten. Die forcierte Digitalisierung wird sich daher erheblich auf bestehende Produktions- und Verwaltungsabläufe auswirken und damit auf tausende Arbeitsplätze in verschiedenen Nationen.
Europäische Betriebsräte (EBR) stehen damit ebenfalls vor einem riesigen Aufgabenberg. Schon während der Corona-Pandemie hatten sich ihnen viele neue Aufgaben gestellt, um Unternehmen krisenfest zu machen. Dabei ging es vor allem darum, die Wertschöpfungs- und Lieferketten robuster auszugestalten – eine Aufgabe, die bis dahin kaum im Fokus von Betriebsräten stand. Mit der digitalen und sozialökologischen Transformation erweitert sich ihr Aufgabenfeld zusätzlich.
Viele Unternehmen gerade auch in der Pharmaindustrie setzen darauf, mithilfe der Digitalisierung sämtlicher unternehmerischer Prozesse neue Geschäftsmodelle für sich zu entwickeln, um ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Für die Betriebsräte auf allen Ebenen des Unternehmens bedeutet dies, sich mit den Plänen des Arbeitgebers auseinanderzusetzen und diese vor allem mit Blick auf die Arbeitsplätze und -bedingungen zu bewerten. Für EBR kommt noch hinzu, dass sie darauf zu achten haben, dass alle Standorte von den Vorhaben des Unternehmens profitieren und keiner auf der Strecke und damit ohne Chance – auch im internen Wettbewerb – bleibt. Dies verlangt von ihnen, die neuen technischen Systeme – von Einzellösungen bis hin zum flächendeckenden Einsatz von KI – zu begreifen, deren Folgen für alle Beschäftigten abzuschätzen und insbesondere hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf deren Arbeit, Gesundheit und Qualifikation zu beurteilen. Dies alles erfordert nicht nur hohe fachliche, technische und soziale Kompetenz, sondern auch starke Mitsprache- und Mitwirkungsrechte. Gerade aber an Letzterem mangelt es europaweit.
Eingeschränkte Mitsprache
Auf europäischer Ebene hat sich seit den 1990er-Jahren zwar einiges getan, um die Mitspracherechte von EBR abzusichern und zu erweitern. Das betrifft insbesondere die Stärkung ihrer Informations- und Konsultationsrechte in einigen Themenfeldern, so etwa im Arbeits- und Gesundheitsschutz, im Bereich des Umweltschutzes und bei der Prüfung von Wertschöpfungs- und Lieferketten. In der Praxis und angesichts der Komplexität der nun auf sie einströmenden Transformationsanforderungen, reichen sie allerdings nicht weit genug: Sehr häufig erfolgt die Information und Konsultation des EBR im Fall von weitreichenden Veränderungsprozessen – eine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers – zu spät und unzureichend. Und allzu oft wird ihm zu wenig Zeit zugestanden, um sich mit den Veränderungsvorhaben des Unternehmens auseinanderzusetzen oder werden dem EBR Hindernisse in den Weg gelegt, sodass er nicht rechtzeitig eingreifen beziehungsweise Gegenmaßnahmen entwickeln kann. Außerdem werden Informations- und Konsultationsrechte noch immer von Land zu Land, Standort zu Standort und Betrieb zu Betrieb recht unterschiedlich gehandhabt. Es bedarf daher, wie es die Gewerkschaften in Europa seit langem fordern, gesetzlicher Mindeststandards zu Information, Konsultation und Mitbestimmung.
Doch bis diese auf europäischer Ebene beschlossen und realisiert werden, dürften noch Jahre vergehen. Deshalb stellt sich die Frage, wie EBR schon heute und unter den gegebenen Umständen dabei unterstützt werden können, sich mehr Einblick in das gesamte Unternehmen, in dessen Zukunftsplanungen und Umsetzungsstrategien zu verschaffen. Denn nur so können sie möglichen Gefahren für Beschäftigung und Arbeitsbedingungen an allen europäischen Standorten des Unternehmens rechtzeitig entgegenwirken. Und sie stellt sich besonders dringlich mit Blick auf das komplexe Themenfeld Digitalisierung.
Euroforum für mehr Mitsprache
Nicht warten bis der Arbeitgeber den EBR im Rahmen seiner gesetzlichen Pflicht über seine Digitalisierungsstrategie und damit verbundene Maßnahmen – oft nur minimalistisch – informiert und konsultiert, sondern eigene Informationsstränge aufbauen, um pro-aktiv handeln zu können: Das haben sich der EBR und die Arbeitnehmervertretungen bei der Merck KGaA schon lange auf die Fahne geschrieben. Im Euroforum, das 1996 gegründet wurde, diskutieren sie seit Jahren darüber, wie der EBR seine Handlungsmöglichkeiten angesichts der fortschreitenden Digitalisierung im gesamten Konzern ausweiten und verbessern kann.
Einen besonderen Drive erhielt das Thema während der Corona-Pandemie, als der EBR in diverse Aktivitäten des Unternehmens eingebunden wurde, um daran mitzuwirken, die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Medikamenten und anderen Gütern durch das Unternehmen zu gewährleisten. Dabei gerieten vor allem die Wertschöpfungs- und Lieferketten verstärkt in den Fokus. Den EBR-Mitgliedern wurde dabei jedoch klar, dass sie ein viel breiteres Handlungswissen benötigten, um hier wirksam eingreifen zu können. Diese Einsicht verstärkte sich in den letzten Jahren als Merck die Umsetzung seiner Digitalisierungsstrategie forcierte.
Aber auch ein anderer Aspekt kam im Euroforum immer wieder zur Sprache. Denn bei Merck – wie in vielen internationalen Konzernen – gibt es in der Kooperation zwischen Arbeitgeber, dem Management und dem EBR an den verschiedenen europäischen Standorten teilweise große Unterschiede. Sie betreffen vor allem die Art der Information und Konsultation, beispielsweise die Aufbereitung von Unterlagen oder auch die Häufigkeit gemeinsamer Besprechungen. Schon seit einiger Zeit setzen sich die Mitglieder des Euroforums deshalb dafür ein, einerseits die Kommunikation mit dem Arbeitgeber beziehungsweise Management über alle Standorte hinweg auf ein höheres Niveau zu heben und sich andererseits neue Informationsquellen unabhängig vom Arbeitgeber zu erschließen.
Über diese beiden Anliegen verständigten sie sich mit der IG BCE. Diese Themen sollten im Rahmen eines Projekts der Förderlinie Transformation der HBS vertieft werden.
Ausgangspunkt für das Projekt „Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Betriebsrats (EBR) bei der Merck KGaA in der digitalen Transformation“ war der Wunsch der EBR-Mitglieder im Euroforum bei Merck, die Digitalisierungsstrategie des Unternehmens frühestmöglich mitzugestalten und sich hierfür eine umfassende Informationsbasis zu verschaffen, die Entwicklungen an allen europäischen Standorten einbezieht. Auf großes Interesse stieß bei ihnen eine bereits in Vorarbeiten von Dr. Klaus-Wilhelm West, wissenschaftlicher Berater (Projektleiter), und Prof. Dr. Ulrich Hilpert (Universität Jena) entwickelte Innovationscheckliste, die erstmals im November 2021 auf einer industriepolitischen Konferenz europäischer Gewerkschaften in Madrid vorgestellt wurde. Diese Checkliste sollte – das war Ziel des Projekts – an die Situation der Merck KGaA angepasst und unter Einbeziehung von Standortbetriebsräten praktisch weiterentwickelt werden. Die Mitwirkung der Betriebsräte erstreckte sich dabei vor allem auf die Teilnahme an mehrtägigen Beratungsgesprächen und Workshops.
In einem ersten Schritt ging es darum, den von den Wissenschaftlern bereitgestellten Entwurf der Digitalisierungscheckliste zu modifizieren und auf die spezifischen Gegebenheiten der Merck KGaA auszurichten. Ihm folgte im zweiten Schritt die Erprobung der Liste an zunächst fünf Merck-Standorten in Deutschland, Frankreich und Spanien. Die dabei gewonnen Erfahrungen wurden an den jeweiligen Standorten in Workshops mit den beteiligten Betriebsräten dokumentiert, evaluiert und am Ende in eine erweiterte gemeinsame Checkliste eingebracht. Diese wurde dem Euroforum Ende Juni 2024 in einem abschließenden Workshop vorgestellt.
Die Digitalisierungscheckliste sollen EBR und Arbeitnehmervertreter*innen an den Standorten vor allem als Instrument für den Aufbau einer Art „Frühwarnsystem“ nutzen können, um frühzeitig Probleme im Digitalisierungsprozess zu erkennen und in der Lage zu sein, rechtzeitig gegenzusteuern. Darüber hinaus soll sie ihnen helfen, ihren Blick auf vielfältige Aspekte des Digitalisierungsgeschehens im gesamten Unternehmen entlang einzelner Themenfelder einschließlich der Veränderungen in den Produktions- und Verwaltungsbereichen bis hin zu den Lieferketten und (geplanten) Geschäftsmodellen zu richten. Angestrebt ist ferner, dass sie durch entsprechende Nachfragen beim Arbeitgeber eine Fülle von zusätzlichen Informationen erhalten und auf diese Weise praktisch und faktisch ihre Anhörungsrechte ausdehnen und stärken.
Das Projekt umfasste eine Laufzeit von fünf Monaten (Anfang März bis Ende Juli 2024).
Pro-aktives Handlungsinstrument
Angesichts des dringenden Handlungs- und Beratungsbedarfs der EBR-Mitglieder bei Merck und der von vornherein festgelegten relativ kurzen Laufzeit des Projekts (März bis Juli 2024), bot es sich an, auf bereits vorhandene Kommunikations- und Informationsinstrumente für EBR zurückzugreifen und diese auf die speziellen Gegebenheiten bei Merck auszurichten und zu erproben. Projektleiter Klaus-Wilhelm West, wissenschaftlicher Berater im Themenfeld Kommunikation für nachhaltige Entwicklung, hatte selbst an der Entwicklung einer Innovationsscheckliste für EBR mitgewirkt, die er im November 2021 vor europäischen Mitbestimmungsakteur*innen in Madrid vorgestellt hatte. Dort war sie auf große Resonanz gestoßen. Diese stellte er nun in den Fokus des Projekts. „Ich war überzeugt davon, den Merck-Kolleginnen und Kollegen damit ein wirksames Handlungsinstrument nahezubringen“, so West.
Zunächst allerdings überwog die Skepsis unter den Mitgliedern des Euroforums. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass das Management ihnen gegenüber Informationen über die Digitalisierungsabsichten des Arbeitgebers weitgehend zurückhielt. Außerdem war ihnen aufgefallen, das ihm vielfach das Wissen darüber fehlte, wie und mit welchen Auswirkungen die Umsetzung der Digitalstrategie bei Merck im Einzelnen und auf allen Ebenen des Unternehmens und nicht zuletzt in den einzelnen Standorten erfolgte. Aus welchem Grund sollte ihnen deshalb ein Projekt einen besseren und detaillierteren Einblick in das unternehmensbezogene Digitalisierungsgeschehen gewähren?
Doch je intensiver sie sich mit der Digitalisierungscheckliste befassten, desto stärker wichen ihre Bedenken. Der Druck, handeln zu wollen und trotz der Informationsdefizite handeln zu müssen, war angesichts des Tempos, mit dem das Unternehmen die Digitalisierung vorantrieb, hoch. Vor diesem Hintergrund kam für den EBR das Projekt zur rechten Zeit. „Die Mitglieder des Euroforums fühlten sich vom Management nicht hinreichend anerkannt. Daher traf das Projekt einen Nerv: Sie hatten sich darüber Gedanken gemacht, wie sie pro-aktiver werden könnten. Im Nachhinein betrachtet hat es mich richtig überrascht, wie wichtig es ihnen war, die Liste kennen- und anwenden zu lernen – als wäre sie das Instrument, nach dem sie gesucht hatten“, berichtet West.
Die Digitalisierungscheckliste basiert ursprünglich auf wissenschaftlichen Studien, darunter die Vorarbeiten von Francesco Sandulli, Professor an der Universidad Complutense in Madrid und Ulrich Hilpert, ehemaliger Professor an der Universität Jena. Die Hauptarbeit im Projekt bestand nun darin, sie an die Gegebenheiten bei der Merck KGaA anzupassen, zu erproben und auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen zu einem wirksamen gut handhabbaren Informationsinstrument weiterzuentwickeln.
Dieser Anpassungsprozess erfolgte in drei Schritten: zunächst stand die wissenschaftliche Überarbeitung des in Brüssel präsentierten Basisentwurfs an. Diese geschah unter Einbeziehung von Experteninterviews und in der Folge einer ersten Präsentations- und Diskussionsrunde im Euroforum in Darmstadt. Dann folgte die praktische Erprobung an fünf verschiedenen Standorten – in Deutschland (zwei Standorte in Darmstadt), Frankreich (Orléans und Molsheim) und Spanien (Madrid und Barcelona). In zweitägigen Workshops an den jeweiligen Standorten, an denen die beteiligten Standortbetriebsräte teilnahmen, wurden die von ihnen mit der Digitalisierungscheckliste gewonnenen Erfahrungen, Einwände und Verbesserungsvorschläge erfasst und kommentiert. Diese Einzelauswertungen wurden anschließend im Euroforum in Darmstadt zusammengefügt und in die erprobte Basischeckliste eingearbeitet. Ende Juni 2024 konnte dann das weiterentwickelte Endprodukt auf einem Abschlussworkshop in Gernsheim bei Darmstadt vorgestellt werden.
Dr. Klaus-Wilhelm West, ProjektleiterWir waren immer wieder erstaunt über das hohe fachliche und betriebliche Wissen, das die Betriebsräte bei der Erprobung der Digitalisierungscheckliste in den einzelnen Standorten einbrachten.
Aufbau und Struktur der Checkliste
Die Digitalisierungscheckliste umfasst insgesamt fünf Themenbereiche und ist an dem Gestaltungsanspruch „guter unternehmerischer Praxis“ ausgerichtet. Normatives Ziel ist unter anderem, mithilfe der Liste „wettbewerbsfähige Gerechtigkeit“ im Unternehmen zu erlangen. „Wir wollen mit diesem Begriff gute Kompromisse in der Praxis ermöglichen, die Wettbewerbsfähigkeit und Gerechtigkeit nicht ausschließen, sondern miteinander vereinigen“, betont Projektleiter Klaus-Wilhelm West. Außerdem gründet die Liste auf einem Kanon von Kriterien und Indikatoren, der die Aufmerksamkeit der Betriebsräte in der Praxis auf eine Vielzahl von Aspekten im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Unternehmen lenken soll.
Im Einzelnen fragt die Digitalisierungscheckliste bezogen auf jeden einzelnen Standort entlang von drei Fragekomplexen:
- Veränderungen im Geschäftsmodell (Änderungen des Informationsaustausches mit den Kunden etc.)
- In welchen gegenwärtig besonders relevanten Tätigkeitsbereichen lassen sich Folgen der digitalen Transformation feststellen? (Mensch-Maschine-Schnittstelle, „Shop Floor“, Planung, etc.)
- Entstehen neue Tätigkeitsprofile in der industriellen Produktion und der Verwaltung? (Industrie-Datenanalysten und Roboterkoordinatoren etc.)
- Potenziale der Beschäftigten (Bildung/Qualifikationen/Gesundheit)
- Wachsen die Anforderungen durch die Komplexität der Arbeitsinhalte und durch die Zeitvorgaben für ihre Bearbeitung? (Arbeitstempo, Komplexität von Projekten etc.)
- Was kommt an neuen Qualifikationen / Belastungen? (Erweiterung des Fachwissens, kommunikative und kooperative Kompetenzen)
- Welches Innovationspotenzial gibt es auf Basis der vorhandenen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten?
- Welche Verschiedenartigkeiten von Rhein-Main, Madrid, Barcelona, Orléans und Straßburg hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Arrangements Strategien gibt es?
- Wie können die Fähigkeiten der Arbeitskräfte als Hauptquelle für innovative Veränderungen gestärkt werden?
- Wie sollten bestehende Strukturen durch zusätzliches Wissen (überregionale Transfer/aus dem Ausland) und Synergie mit neuen Partnern in Europa ergänzt werden?
- Welche sind die wichtigsten Kompetenzen in der Softwarebranche in Madrid?
- Wie ist die Softwareindustrie mit globalen Wissensketten (z. B. Silicon Valley) verbunden und in die globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten eingebunden?
- Wie wurden die Kompetenzen aufgebaut? (Lokales Wissen, Wissen aus der Ferne)
- Welche Verbindungen gibt es zu anderen Branchen in anderen spanischen Regionen?
- Welches sind die Schlüsselelemente der Region Madrid, die zur Entwicklung der Branche beigetragen haben?
Gerade der letzte Fragenkomplex stellt für viele Betriebsräte eine Herausforderung dar, da dieser im Kern Unternehmensentscheidungen betrifft, die (bisher) von der Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen sind – wie beispielsweise die Einführung einer bestimmten Software oder Technologie. „Wir halten es dennoch für wichtig, dass sich EBR mit solchen Fragen auseinandersetzen, da jede technische Neuerung weitreichende Auswirkungen auf die Arbeit und Arbeitsbedingungen haben kann“, betont West. Es reiche nicht aus, so der Wissenschaftler, wenn Betriebsräte nur die Folgen der im Unternehmen angewandten Software und technologischer Systeme mitbeeinflussen könnten. Sie müssten ebenfalls wissen, wie eine Programmierung erfolgt, welche Prämissen darin einfließen und wer über das alles bestimmt, um gegebenenfalls Alternativen zu bedenken.
Beispielsweise könnten sie erfragen – und hierfür gibt die Checkliste Raum –, ob eine Programmierung ausschließlich von Techniker*innen des beauftragten Softwareunternehmens erfolgt beziehungsweise erfolgen soll, oder ob nicht auch diejenigen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollten, die die Programme anwenden. Ebenfalls ratsam wäre, den Arbeitgeber mit der Frage zu konfrontieren, ob neue Software nicht grundsätzlich in Pilotprojekten getestet und unter Beteiligung der damit arbeitenden Beschäftigten evaluiert und danach möglicherweise verändert werden sollte. In der Konsequenz könnten Betriebsräte ihm eine entsprechende Rahmenbetriebsvereinbarung abverlangen. Ähnlich ließe sich nach Geschäftsmodellen, Liefer- und Wertschöpfungsketten fragen: Welchem Ziel dienen sie, wer hat sie entwickelt, welche Problemlagen erzeugen sie und welche besseren Lösungen im Interesse der Beschäftigten wären denkbar? Auch diesbezüglich enthält die Digitalisierungscheckliste eine Vielzahl von Fragepunkten.
Kompetenz- und Ansehensgewinn
Anhand der Fragen zum Thema Software wird sichtbar, wie die Checkliste den Blick von EBR auf eine große Bandbreite von Aspekten lenkt. „Mit unserer Checkliste haben wir zweierlei im Sinn: Zum einen kommt es uns darauf an, Betriebsräten den Blick auf das Digitalisierungsgeschehen im Unternehmen zu erweitern. Immerhin haben sie es dabei mit einer großen Komplexität zu tun, bei der sie weit nach rechts und links, oben und unten schauen müssen“, so Ulrich Hilpert. Zum anderen soll die Liste sie sensibilisieren, in einzelnen Bereichen genauer hinzuschauen – das heißt: nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, sondern auch tieferliegende Probleme ausfindig zu machen.
Aus Sicht des Professors ist es entscheidend, dass Mitbestimmungsakteur*innen die Liste als Instrument für pro-aktives Handeln nutzen und durch sie bestärkt werden, beim Arbeitgeber beziehungsweise Management gezielt nachzufragen. Denn bisher liegt genau hier das Dilemma: Weil Betriebsräte häufig keine Informationen von ihrem Arbeitgeber erhalten oder nur unzureichend informiert werden, können sie nicht nachhaken. Wenn sie nicht wissen, was wo wie geschieht und welche möglichen Folgen dies für die Beschäftigten haben könnte, sind sie auch nicht in der Lage, dem Management Fragen zu stellen. Aber indem sie gezielt ihre Informationsquellen nutzen, erhalten sie Antworten – und damit verbunden Informationen. Sie können sich so ein eigenes Informationssystem aufbauen, das es ihnen ermöglicht, ein umfassenderes Bild der Digitalisierung im Unternehmen zu gewinnen – speziell über deren Ausmaß und Reifegrad und bezogen sowohl auf die unterschiedlichen Standorte als auch auf das Gesamtunternehmen. Andernfalls werden sie erkennen, an welchen Punkten ihnen der Arbeitgeber ausweicht oder ihnen wichtige Informationen vorenthält. Diese Zurückhaltung des Arbeitgebers sollten sie wiederum zum Anlass nehmen, weiter nachzuhaken oder sich stärkeren Rückhalt in der Belegschaft zu verschaffen, um Druck auf das Management auszuüben.
Wenn Betriebsräte mit der Digitalisierungscheckliste arbeiten und gezielt nachfragen, erweitern und stärken sie ihre Anhörungsrechte. Indem sie den Arbeitgeber fordern, Auskünfte zu erteilen, haben sie die Möglichkeit, sich eine weitreichende Informations- und Wissensbasis aufzubauen. Damit verschaffen sie sich in der Regel auch Respekt – nicht nur unter den Beschäftigten, sondern auch beim Management. „Wir beobachten stets, dass gut informierte Betriebsräte nicht nur mehr erreichen, sondern über ihren Informationsvorsprung zugleich ihre Anerkennung im Unternehmen stärken. Dies hilft ihnen dabei, ihre Forderungen durchzusetzen und ihre Ziele zu erreichen“ berichtet Ulrich Hilpert.
Den größten Nutzen erhalten EBR allerdings, wenn sie sich gezielt und systematisch auf der Basis der Digitalisierungscheckliste und der bei ihrer Anwendung selbst gewonnenen beziehungsweise vom Arbeitgeber erfragten Informationen ein „Frühwarnsystem“ aufbauen können, welches ihnen fundiert Auskunft über die Stärken und Schwächen des Unternehmens gibt und ihnen bisherige Gestaltungsdefizite und dringliche Handlungsbedarfe vor allem in besonders kritischen Beschäftigungsbereichen vor Augen führt. Das gilt erst recht, wenn es dem EBR gelingt, ein solches Frühwarnsystem nicht nur einzurichten, sondern dauerhaft zu pflegen und zu einer Art kontinuierlichem Berichtswesen auszubauen.
Ansprechpersonen des Projektes
Projektleiter: Dr Klaus-Wilhelm West
Projektbearbeitung: Prof. Dr. Ulrich Hilpert
Förderlinie Transformation
Digitale Transformation, Klimawandel, Energiekosten - Es gibt viele Treiber von Transformationsprozessen. Folgen für die Arbeitswelt sind u.a. ein hoher Veränderungsdruck auf allen Seiten, in Betrieben, Branchen und Regionen. Im Zentrum der neuen Förderlinie Transformation steht daher: Wir entwickeln sehr konkrete Projekte gemeinsam mit Praxispartner*innen und etablieren eine schnelle Entscheidungsfindung über die Förderung. Wir bringen konkrete aktuelle Herausforderungen in der Praxis von Betriebs- und Personalräten mitbestimmter Unternehmen und Organisationen mit wissenschaftlicher Expertise zusammen – betrieblich, regional, lösungsorientiert.